29.08.2018 Rezension von P e t e r B o u r q u i n
- Thomas Geßner, Wie wir leben – und was wir alles aus Liebe tun oder vermeiden, Köln 2018, Innenwelt Verlag, ISBN 978-3942502887
Um die Schlussbetrachtung vorweg zu nehmen: ich habe die Lektüre genossen, und das aus zweierlei Gründen. Zum ist Thomas Geßner einfach ein ausgezeichneter Schreiber, der in einer persönlichen flüssigen und nahen Sprache auf originelle Weise seine Gedanken darlegt und die Lektüre damit zu einem Genuss macht. Zum anderen gefällt mir die klare und intelligente Art und Weise, wie er sein Verständnis und seine Einsichten zum Thema Liebe vermittelt.
Das wird auf den ersten Blick deutlich beim Inhaltsverzeichnis, welches das Buch in drei Teile gliedert; „Damals“, „Jetzt“ und „Echos“. Im ersten Teil „Damals“ betrachtet er Liebe zuerst aus der Sicht des Ungeborenen, dann aus der des Kindes und schließlich aus der des Jugendlichen. Grundgedanke ist, dass sich diese Lebensetappen im Wirkfeld der abhängigen Liebe entwickeln, da wir in dieser Zeit auf Gedeih und Verderb auf die Bindung zu unseren Eltern und Ernährern angewiesen sind, um zu überleben. Gessner führt aus, wie in der Folge im Heranwachsenden die Symbiose und das Gewissen auf körperlicher, emotionaler und gedanklicher Ebene erfahren wird und in welche Arten von Dilemma sie einen führen. Diese unbewusste und abhängige Liebe gestaltet unser Leben, wirkt in uns, bringt unser Fühlen, Denken und Handeln erst hervor. Sie dient unserer Selbsterhaltung und macht dabei keine Fehler.
Der zweite Teil „Jetzt“ ist der Liebe aus der Sicht der Erwachsenen gewidmet, womit er natürlich den Leser in seinem aktuellen Lebensmoment anspricht. Einige Grundgedanken sind: ein seelisch erwachsener Mensch ist im Jetzt-Bewusstsein, erlebt und weiß, dass die Abhängigkeit vorbei ist und es deswegen auch nicht mehr nötig ist, das Leben kontrollieren zu wollen. Stattdessen gibt er sich dem Leben mehr und mehr hin und fließt mit dem gegenwärtigen Moment. Im Unterschied zur einstigen abhängigen Liebe beschreibt er eine erwachsene Liebe, die Geßner Selbstliebe nennt und eine ständig aktualisierende Manifestierung der uns innewohnenden Lebendigkeit ist. Sie ist in gewissem Sinne unpersönlich und nicht ich-zentriert, sucht Entfaltung und Hingabe und kann uns in ein entspannteres inneres Erwachsensein führen.
Im dritten Teil „Echos“ geht er auf unterschiedliche Aspekte ein, wie unser ‚Damals‘ in unser Jetzt nachwirkt und sich beispielsweise in Neurosen, Sucht, Depression, Opferstatus etc. zeigen kann. Und auch, wie diese innere Bewegung aus der abhängigen Liebe heraus in eine reife Selbst-Liebe sich in Bezug auf die Eltern oder zum eigenen Partner hin auswirkt und zeigt. Geßner beschreibt Wege, wie man, indem man sich dem gegenwärtigen Moment anvertraut, die Echos der Vergangenheit zur Ruhe bringen und es einem so gelingen kann, sie als Ausdruck der einstigen Liebe zu verstehen und zu achten.
Was macht die Liebe mit unserem Bewusstsein, besser gesagt, dieser Tanz zwischen ihren Polen von abhängiger und Selbst-Liebe mit uns? Für Geßner entwickeln sie gemeinsam unser Bewusstsein. Hier bezieht er sich auf das Bewusstseinsmodell in sieben Stufen von Wilfried Nelles und dessen Lebensintegrationsprozess (LIP), der von ihm als gedankliche Grundstruktur des Buches herangezogen wird. Mir gefielen beim Lesen sein eigenes Verständnis und seine originelle bildliche Sprache diesbezüglich. Vorläufige Betrachtungen über eine sich daraus ableitende Psychologie der Gegenwärtigkeit schließen das Buch ab.
Die Lektüre ist eine reichhaltige Mischung aus Lebenserfahrung, therapeutischem Verständnis und eines theoretischen Modells, das anschaulich illustriert und vorgestellt wird. Mich hat das Lesen des Buches inspiriert, was trotz der Fülle der aktuell publizierten Fachbücher keine Selbstverständlichkeit ist. Im guten Sinne: Lesenswert!
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