Liebe Leserin, lieber Leser,

dies ist die Fortsetzung des oben genannten Textes Wilfried Nelles, der im Jubiläumsheft zu lesen ist. Den folgenden Abschnitten gehen diese voraus:

  • Der Wendepunkt
  • Abschied und Neubeginn
  • Bert Hellinger und das "Systemische"
  • Systemaufstellungen
  • "Systemisch-konstruktivistisch" versus "phänomenologisch"
  • Vergangenheit, Verstrickung und Lösung

die Redaktion

 

 

Bert Hellinger, die „Systemaufstellungen“ und ich – eine autobiografische Geschichte

Wilfried Nelles

Ich will

In dem Satz „Man muss schauen, wohin die Liebe fließt, und das dann ausdrücken“, steckt noch etwas anderes, zutiefst Erschreckendes: die Erkenntnis, dass man das, was geschehen ist, innerlich gewollt hat, dass man ihm in seiner innersten Haltung zugestimmt hat. Das hat, vor allem beim Thema „sexueller Missbrauch“, viele empört und gegen Hellinger aufgebracht, es wurde als Verhöhnung des Opfers verstanden. Nein, es war – und ist – die Verwandlung des Opfers in eine handelnde Person. In dem Satz „Ich habe es so gewollt“ oder „Ich will es so“ ist das Opfer kein Opfer mehr. Erst durch diese Einsicht kommt man in seine Kraft und wird handlungsfähig. Außerdem ist es – in einem spezifischen Sinne – die Wahrheit. [8]

Das gilt auch jenseits des Themas Missbrauch, auch jenseits von Ereignissen aus der Vergangenheit. Ich – dies ist jetzt eine ganz persönliche Aussage – habe kürzlich eine sehr ernsthafte Krankheitsdiagnose bekommen. Bin ich das Opfer? Man kann es so sehen, aber in dieser Sicht bin und bleibe ich ohnmächtig und im Grunde handlungsunfähig. Ich gebe dann die Verantwortung an andere ab, seien es die Ärzte oder das Schicksal. Wenn ich mich aber zu der Einsicht durchringe, dass ich die Krankheit will, sie vielleicht sogar gerufen habe, sie zumindest jedoch als etwas nehme, zu dem ich ja sage, werde ich plötzlich handlungsfähig. 

Dann liegt allerdings auch die gesamte Verantwortung bei mir, ausschließlich. Aber tut sie das nicht sowieso, auch wenn ich sie an einen Arzt, an „die Medizin“ oder an „die Wissenschaft“ abgebe? Oder gar, wie es unter Aufstellern nicht selten vorkommen soll, an eine Aufstellung? Die Folgen muss ich immer selbst tragen. Der Unterschied ist nur, dass ich nicht selbst antworte, sondern das Antworten einem anderen überlasse und damit meiner Verantwortung nicht gerecht werde. Das Nicht-Antworten ist zwar auch eine Antwort, aber eine, die ich seelisch nicht zu mir nehme.

Dieses „Ich“ in dem Satz „Ich will die Krankheit“ oder „Ich wollte mich für meine Mutter/meinen Vater opfern“ ist kein Ego. Es ist nicht das persönliche Wollen, eine persönliche Absicht – es ist die Seele (oder auch die Liebe). In Hellingerscher Terminologie: das Größere, das mich führt. Sie ist es, die mir die Krankheit schickt oder mich für sie empfänglich gemacht hat, die, um es mit Hartmut Rosas Resonanztheorie zu sagen, in Resonanz mit dem gegangen ist, was in der Seele als Krankheit schwingt. Indem ich dazu „Ich“ und „Ich will“ sage, nehme ich das Geschehen – etwa den Missbrauch oder irgendein anderes Ereignis aus meiner Kindheit oder auch etwas Aktuelles wie eine Krankheit – erst ganz zu mir: Auch das Wollen meiner Seele nehme ich dann erst ganz zu mir. Wenn ich hingegen sage „Meine Seele will das“, bleibt es noch draußen, bin ich in gewisser Weise immer noch Opfer und kann nichts dafür. Erst mit dem „Ich will“ verbinde ich mich ganz mit der Seele (dem Größeren). In dieser Verbindung liegt die Heilung.

Zugehörigkeit

Ein anderer Punkt, wo Hellinger für mich – diesmal nicht gelegentlich, sondern generell – zu weit ging, war seine Aussage, jedes Kind habe „ein Recht auf Zugehörigkeit“. Dies, das „Recht auf Zugehörigkeit“, ist der wichtigste Aspekt seiner „Ordnungen der Liebe“. Um es klar zu sagen: Es gibt im Leben keine Rechte! So etwas mag man politisch deklarieren (Menschenrechte) und es mag dort sinnvoll und wichtig sein, psychologisch ist dies jedoch Unsinn. Wir haben kein Recht auf Leben, auf Unversehrtheit, auf Gesundheit, auf Liebe – kein Recht auf gar nichts. 

Hier spielt etwas sehr, sehr Persönliches in Hellingers Arbeit hinein. Ich würde nicht darüber schreiben, wenn er noch lebte, aber es ist wichtig, dies zu sehen – und zwar nicht nur in Bezug auf Bert Hellinger, sondern für jeden einzelnen in Bezug auf sich selbst. Unsere Theorien sind immer auch ein Ausdruck unserer Persönlichkeit, und was uns in der psychologischen Arbeit am meisten beschäftigt und am tiefsten bewegt, enthält immer etwas Eigenes, ganz Persönliches. 

Anton – dies ist Berts Taufname, „Bert“ ist die weltlich klingende Kurzform seines Ordensnamens Pater Suitbert – Hellinger war in seiner Familie das Kind, das keinen Platz hatte, das, so musste es dem kleinen Jungen erscheinen, nicht dazugehören durfte. Die Tatsache, dass er nach seinem Austritt aus dem Orden nicht den Namen wieder annahm, den ihm seine Eltern gegeben haben, sondern aus dem altertümlich-religiösen Suitbert einen lockeren, modernen „Bert“ machte, lässt tief blicken. Ich bezweifle, dass er das einem Klienten hätte durchgehen lassen.

Der kleine Anton war vier Jahre alt, als seine Eltern aus Leimen nach Köln zogen. Der ältere Bruder und die jüngere Schwester durften mit, er musste bei den Großeltern bleiben. Ich glaube, ich brauche hier nicht auszuführen, welch einen Schmerz dies für ein vierjähriges Kind bedeutet. Zwei Jahre später musste er dann aber zu seinen Eltern nach Köln, weil er nach den damaligen Gesetzen dort zur Schule gehen musste, wo seine Eltern gemeldet waren. Dass die Zeit in Köln eine voller fast täglicher Schläge (seitens seines Vaters) war, hat er erst sehr spät in seinem Leben offenbart. 

Daher war es wohl, wie er immer wieder betonte, eine große Erleichterung für ihn, als er wiederum vier Jahre später, mit zehn Jahren, weit weg von zu Hause nach Lahr bei Würzburg ins Internat geschickt wurde. Für ein Kind in einer „normalen“ Familie wäre dies immer etwas sehr Schmerzhaftes gewesen. Ich war als „Externer“ – was bedeutete, dass ich zu Hause bei meinen Eltern wohnte und täglich zur Schule fuhr – in einer Klosterschule mit vielen Internatsschülern; es wäre für mich die Höchststrafe gewesen, wenn meine Eltern mich dort abgelegt hätten. Anders bei Bert: Im Internat hat er nach eigenem Bekunden die schönste Zeit seiner Kindheit verbracht.

Um es kurz zu machen: Anton Hellinger hatte nie einen Platz in seiner Familie, genauer: nie den Platz, den sich ein Kind im Innersten wünscht. Aus der lebenslangen Suche nach diesem Platz, die in der Tiefe die Suche nach seiner Mutter gewesen sein dürfte, ist seine ganze Arbeit entstanden. Das „Recht auf Zugehörigkeit“ ist seine tiefste Sehnsucht gewesen – genauer gesagt: nicht das „Recht“, sondern das wirkliche Gefühl, dazuzugehören. Auch dass niemand ausgeschlossen werden darf und die Ausgeschlossenen wieder einen Platz bekommen müssen, gehört hierzu. Was er nicht sehen konnte: Er hat immer dazugehört, nur nicht so, wie er es sich wünschte. Der heilende Satz wäre ganz einfach gewesen: „Ich gehöre dazu.“ Man könnte zur Verdeutlichung noch hinzufügen: „... ob es euch (den Eltern) nun gefällt oder nicht, ob ihr mich wollt oder nicht.“

Hellinger hat aus diesem Trauma des Nicht-Dazugehörens die Kraft für seine große Arbeit gezogen. Sicher war das auch Kompensation, der kindliche Schmerz im Innern geht dadurch nicht weg. Wer ihm persönlich nah kam, erlebte einen Mann, der zutiefst scheu und unsicher war. Die Sicherheit, die er in der Öffentlichkeit, vor allem bei seiner Arbeit vor großem Publikum, ausstrahlte, stand in einem scharfen Kontrast zu dieser inneren Unsicherheit. Ich erzähle dazu eine kleine Begebenheit.

Beim Kölner Kongress hatten Heinrich Breuer und ich ihn spontan gebeten, einen Workshop anzubieten, bei dem Aufstellerkollegen ihn nach den Veränderungen in seiner Arbeit befragen könnten, besonders nach den „Bewegungen der Seele“ und den Unterschieden zu seiner früheren Arbeitsweise und auch den Schlussfolgerungen, die er daraus ziehe. Wir wollten damit einem Bedürfnis Rechnung tragen, das damals viele Kollegen bewegte. Als wir ihm das vorschlugen, meinte er: „Da muss aber einer von euch mit dabei sein.“ Ich habe gespürt, dass er einen Schutz brauchte, was mich damals sehr verwundert hat. Ich habe das dann übernommen und den Workshop moderiert, sodass Bert nur auf die Fragen zu antworten brauchte. 

Es war der kürzeste Workshop, den ich je erlebt habe. Gleich die erste Frage hat Hellinger umgedreht. Anstatt sie zu beantworten, hat er sie psychologisch gedeutet und dem Fragenden eine persönliche Motivation, ein psychisches Problem, unterstellt. Er hat ihn ungefragt wie einen Klienten behandelt, der mit einem Problem zu ihm kommt, anstatt wie einen Kollegen oder erwachsen gewordenen Schüler, der sich mit ihm austauschen möchte und nach einer Antwort auf eine fachliche Frage sucht. Danach hat niemand mehr etwas gefragt.

Darin zeigte sich Hellingers tiefe innere Unsicherheit, die ich damals zwar registriert, aber auch gleich wieder vergessen habe (ich hatte ja auch viel zu tun) und erst Jahre danach ganz sehen konnte. Die Therapeutenrolle, wo er auf Menschen eingehen und sich Nähe erlauben konnte, ohne dass dies persönlich werden würde und er selbst sich öffnen und zeigen musste, die große Bühne und das „Gehen mit dem Augenblick“, waren für ihn, so merkwürdig dies klingen mag, Schutzraum und Sicherheitsleine. Er konnte immer auf das verweisen, was sich ihm „zeigt“, und darüber gab es nichts zu diskutieren, denn ob es sich ihm, Hellinger, zeigte oder nicht, konnte nur er selbst wissen. Hier konnte er sich ganz einlassen, der Wahrnehmung im Augenblick konnte er ganz vertrauen. 

Mit etwas mehr innerer Sicherheit hätte er natürlich Fragen, auch kritische Fragen, zu dem, was sich ihm auf welche Weise zeigt und wie er damit dann umgeht, erlauben und auf sie antworten können. Damit wäre er der Rolle als Lehrer (die er anfangs jedoch wohlweißlich ablehnte und erst ab 2005 auf Druck seiner neuen Frau für sich reklamierte) gerecht geworden, aber diese Sicherheit hatte er einfach nicht. Selbst das offene Gespräch mit ihm wohlgesonnenen Kollegen über grundlegende Themen seiner Arbeit erschien ihm, so jedenfalls mein Eindruck aus den Begegnungen mit ihm, schon gefährlich. 

Das „Objektive“ ist ganz subjektiv

Trauma hat oft diese beiden Seiten: Es spornt zu großen Leistungen an und trägt und täuscht einen damit zugleich über den inneren Schmerz hinweg. Die größten Künstler, Schriftsteller oder Theoretiker – sogar und ganz besonders die, die ganz abstrakte Theorien entwerfen – sind oft schwer traumatisiert und arbeiten in ihren Werken ihr Trauma ab (Genauer: Sie lenken sich damit davon ab, sodass sie das Trauma selbst nicht anschauen und fühlen müssen). Das Persönliche wird dann hinter oder in den großen Theorien oder Werken versteckt und erscheint als etwas Objektives, wo es doch nur die Verfremdung von etwas zutiefst Subjektivem ist. In den meisten Fällen ist das den Betreffenden nicht bewusst. Ich will das nicht für Bert Hellinger behaupten, er dürfte dies schon gesehen haben. Aber nach außen gezeigt hat er es nicht, es blieb weitestgehend in ihm eingeschlossen.

Ich will damit nicht sagen, dass ein Therapeut das Persönliche oder gar Intime nach außen tragen sollte. Ich halte es aber für sehr wichtig, seine Verletzlichkeit nicht hinter der Therapeutenrolle zu verstecken. Je mehr man sich selbst zeigt, umso mehr wird auch der Klient seine verletzten Seiten zeigen, umso mehr wird er einem vertrauen. Und für einen selbst geschieht dabei auch Heilendes. Deshalb ist es für Therapeuten so wichtig, sich selbst sehen zu lernen und den Mut zu haben, sich dem Klienten als Mensch mit all seinen Schwächen zu zeigen. 

Hellinger hat immer versucht, das Persönliche aus seiner Arbeit herauszuhalten, hat so gut wie nie über sich selbst gesprochen. Das funktioniert nicht, es schleicht sich dann von hinten ein. So manche verletzende Bemerkung, die ihm bei aller Zuwendung in der Sache zum Beispiel gegenüber Frauen manchmal herausgerutscht ist, dürfte seiner Mutter gegolten haben. Es ist mir auch aufgefallen, dass er in der Zeit um seine Scheidung herum bei Paarproblemen ganz schnell mit der Bemerkung dabei war, „Das ist vorbei“, „Das hat keinen Zweck mehr“ oder so ähnlich. Und die Aura des Autoritären, die ihn umgab und dazu führte, dass erwachsene Menschen neben ihm ganz klein wurden und sich nicht trauten, ihm zu widersprechen, ist auch nicht wirklich heilsam für therapeutische Prozesse, vor allem nicht für inneres Wachstum. Man musste schon recht stark sein, um ihm standzuhalten. Dann allerdings bekam man seine volle Aufmerksamkeit und Anerkennung (solange man ihn nicht öffentlich kritisierte), und daran konnte man dann auch richtig wachsen. 

Es gibt keine Objektivität, in der Wissenshaft nicht und in der Therapie schon gar nicht. Wir handeln immer als Subjekte, und je offener wir dies tun, je mehr wir uns dessen bewusst sind und bereit sind, uns auch selbst berühren zu lassen, ja sogar unsere eigene Verletzlichkeit zu zeigen, umso mehr Abstand können wir von unseren eigenen Themen haben und umso besser können wir den Klienten sehen. Zugleich kann die Arbeit mit Klienten dann auch für unsere eigenen Verletzungen heilend wirken.

Nur der Schmerz heilt

Im Insistieren auf dem Recht auf Zugehörigkeit ist Bert Hellinger dem Bedürfnis des kleinen Anton gefolgt. Er hat diesen Jungen, sich selbst, nicht gesehen, sondern hat aus dessen Perspektive geschaut (war mit ihm identifiziert) und hat dessen Wunsch, das innigste Bedürfnis dieses ausgeschlossenen Kindes, zu einem der Schlüsselpunkte seiner Therapie gemacht. Damit hat er einerseits diesem kindlichen Bedürfnis einen Platz gegeben und den Blick darauf gelenkt, wie wichtig dies für ein Kind ist, und damit unzähligen Klienten geholfen. Ich vermute jedoch, dass die kindliche Wunde damit – nachdem in einer Aufstellung nach vielen Klärungsprozessen das Kind endlich seinen Platz bekommen hat – lediglich überdeckt wird. 

Anstatt zu fragen und danach zu suchen, welche Ursachen die Kälte der Eltern oder ihre Wut haben könnte, und zu versuchen, durch ersatzweise Therapierung der Eltern, Großeltern und so weiter aus ihnen mitfühlende und liebevolle Eltern und Paare zu machen, die sich dem abgeschobenen Kind dann fünfzig Jahre nach dessen wirklicher Kindheit (in einer Aufstellung!) zuwenden und es endlich nehmen und von ihm genommen werden können (was natürlich alle, die dies miterleben, emotional zutiefst berührt), geht es viel tiefer, wenn man die Tatsachen, etwa die Gleichgültigkeit oder gar die Ablehnung der Eltern, sieht und lässt, wie sie sind - und den damit verbundenen kindlichen Schmerz als Erwachsener ganz zu sich nimmt.   

Es ist immer der Schmerz, der heilt. Ein Kind kann dies nicht leisten, es muss den Schmerz verdrängen, überspielen, ignorieren oder wie auch immer es ihn vermeidet, sonst würde es daran zugrunde gehen. Erst der Erwachsene kann dies, wenn er die Wirklichkeit, die das Kind erlebt hat, widerstandslos anschaut. Damit bricht die kindliche Wunde noch einmal auf und der kindliche Schmerz kommt mit aller Wucht noch einmal ins Gefühl – aber ins erwachsene Gefühl. Wenn dies bewusst geschieht, ist die Wunde geheilt.

Hellinger hat auch übersehen, dass jedes Kind diesen Platz bereits hat, und dass es vollkommen vergebens ist, ihn einzufordern. Ein Kind gehört immer zur Familie, das ist ein Faktum. Die Eltern können dies zwar ignorieren und das Kind wegschicken oder verleugnen, aber ihm damit nicht die Zugehörigkeit nehmen. Der spätere Erwachsene muss diese Tatsache nur sehen, muss nur sehen, dass er zu dieser Mutter, diesem Vater und all den anderen qua Existenz dazugehört. Dann hört man auf, nach etwas zu suchen oder etwas zu fordern, was man nie bekommen wird. Das ist aber eine Herausforderung, der sich nur ein innerlich Erwachsener stellen kann. Sie erfordert die schmerzliche Einsicht, dass sich das Leben nicht nach unseren Wünschen richtet, und seien sie noch so verständlich. Dem werden die Aufstellungen, in denen zuerst Verstrickungen gelöst werden, nicht gerecht. 

Wie die Eltern mit dieser Tatsache umgehen, ist eine ganz andere Frage. Für das Kind, aus der kindlichen Perspektive, ist sie existenziell, für den späteren Erwachsenen – also den Klienten in der Therapie – aber nicht mehr. Er hat ja, was das Kind damals nicht wissen konnte, auch ohne die Eltern überlebt. Wenn er das sieht, kann die Kindheit mitsamt allen Schmerzen vorbei sein. Das Aufrechterhalten der Forderung nach Zugehörigkeit hingegen ist vollkommen ohnmächtig und wirkungslos. Dann sucht man zum Beispiel sein Leben lang nach einer Frau (oder einem Mann), die einem das Gefühl gibt, man sei ihr wichtig. Meistens geht das schief.

Die Ontologisierung von Hellingers Aussagen

Wenn ich sage, „Hellinger hat dies übersehen“, ist das nicht ganz korrekt. Man muss bei Bert Hellinger drei Ebenen unterscheiden. Die erste und wichtigste ist seine Arbeit mit Klienten. Viele Aussagen von ihm, die später mehr oder weniger ontologisiert, als eine Art von Gesetz oder Regel festgeschrieben oder auch als solche kritisiert wurden, stammen aus der Unmittelbarkeit dieses Kontaktes und müssen immer in diesem Kontext gesehen werden. In dem Moment, wo sie dieses Kontextes entkleidet werden und sozusagen als nackte Aussagen dastehen, bekommen sie eine ganz andere Bedeutung. 

Genau dies ist aber durch die Veröffentlichungen geschehen. Auch wenn sie oft als Transskripte dargestellt wurden und Aufstellungsbilder mitgeliefert wurden, wirkt dies doch anders als im unmittelbaren Erleben. Zum Beispiel sind körperliche Reaktionen wie die Mimik der Klienten, sprachliche Modulationen oder Dinge, die im stillen Augenkontakt wahrgenommen werden, nicht schriftlich darstellbar – es sei denn, man baut sie in eine Art Erzählung ein, was Hellinger aber nicht getan hat. 

Die gezeichneten Aufstellungsschritte seiner Bücher aus den Neunzigern geben das lebendige Geschehen in keiner Weise wieder, und selbst in den Videos ist manches nicht wahrnehmbar, was im lebendigen Kontakt wirkt. Ich habe einmal zu ihm gesagt, dass ich die meisten seiner Interventionen nicht nachvollziehen kann, wenn ich mir die Videos anschaue, dass ich zwar sehe, dass sie wirken, aber nicht, warum und was ihn zu diesem oder jenem Satz gebracht hat. Seine Antwort: „Ich auch nicht“.

Wenn dann auch noch die sogenannten „Lösungssätze“ am Schluss eines Buches, wie bei „Ordnungen der Liebe“, zusammengefasst wiedergegeben werden (und, wie ich damals gehört habe, in vielen Weiterbildungen auswendig gelernt werden mussten und abgefragt wurden), entsteht ein starres Regelwerk, das Hellingers praktischer Arbeit nicht gerecht wird. Gleichwohl hat er auch selbst dazu beigetragen, denn schließlich sind es seine Bücher und er ist der Autor.

Drittens hat er Letzteres in Interviews und Gesprächen wiederum relativiert und auf den unmittelbaren und fließenden Charakter seiner Arbeit hingewiesen – was aber nicht ausschloss, dass er es bei nächster Gelegenheit als feste Regel oder „Ordnung“ dargestellt hat. 

Was von der großen Mehrheit der Aufsteller hauptsächlich aufgegriffen wurde, ist die zweite Ebene von Aussagen und quasi Lehrsätzen – sei es, dass diese nachgesprochen und zur Grundlage der „Aufstellungen nach Hellinger“ gemacht oder dass sie als dogmatische Aussagen oder Ähnliches kritisiert wurden. 

Was ich hier schreibe, bezieht sich auf alle drei Ebenen, darauf, wie ich Hellinger sowohl bei der praktischen Arbeit und in persönlichen Gesprächen erlebt habe, als auch auf die Veröffentlichungen. Es ist also meine Interpretation. Im Einzelfall kann man wahrscheinlich zu den meisten seiner Aussagen auch eine gegenteilige finden. 

Hellinger und die Jugend

Bert Hellinger hatte, bedingt durch den Krieg, auch keine Jugend. Als er zurückkam, ist er gleich in den Orden eingetreten und damit an den Platz zurückgegangen, der ihm in der Kindheit den größten – vielleicht den einzigen – Halt gegeben hat. Der Orden war wohl seine Ersatzfamilie. Für Jugend, sich ausprobieren und Erfahrungen sammeln war dort kein Platz. Erst mit seinem Austritt aus dem Orden, mit über 40 Jahren, hat er diese Ersatzfamilie verlassen, allerdings nicht in der Weise der Jugend, des Sich-Befreiens, sondern in der Weise, dass er (was für sein Alter natürlich vollkommen passte) nach einer sehr zügigen und zielgerichteten therapeutischen Lehrzeit und mit einer Heirat gleich ins Erwachsenenleben eingetreten ist. 

Auch das hat seine Arbeit stark geprägt, für die Absetzbewegung des Jugendlichen von den Eltern, überhaupt für das, was Jugend ausmacht, hat er nie Verständnis gehabt. Darin lag allerdings auch eine Stärke: Er konnte das moderne Programm der Rebellion und der vermeintlichen Befreiung von den Eltern, das auch in der Therapie herrschte und ein Jugendprogramm ist, von außen sehen und erkennen, dass es eine Sackgasse war. 

Die Systemiker hingegen sind diesem Programm gefolgt, und mir scheint, dass dies auch die herrschende Haltung in der Aufstellerszene ist, soweit sie sich der DGfS zugehörig fühlt. Die meisten haben, ganz anders als Hellinger, kaum eine Distanz zum Zeitgeist. Man mag zwar das ein oder andere kritisch sehen, z. B. künstliche Befruchtung durch unbekannte Samenspender, aber der allgemeine Geist, der darin zum Ausdruck kommt (der Machbarkeitswahn der Moderne), wird nicht gesehen. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass sowohl auf der Internetseite der DGfS als auch in der „Praxis der Systemaufstellung“ –zumindest teilweise – die Gendersprache benutzt wird. In einem Medium oder einem Verband, der dies mitmacht, hätte ein Bert Hellinger, da bin ich mir hundert Prozent sicher, keinen Platz mehr für sich gesehen – das gilt auch für die Zeit, wo er noch in der Praxis der Systemaufstellung veröffentlicht hat.

Insgesamt haben die DGfS und die PdS die revolutionäre Kraft verloren, die, von Bert Hellinger ausgehend, in den Anfängen der Aufstellungsarbeit wirkte. Man ist „anerkannt“ und damit harmlos und zahnlos geworden. Das ist allerdings nichts Besonderes und nicht denen anzukreiden, die sich dort engagieren, es ist das Schicksal aller Verbände. Solange zumindest intern eine offene Debattenkultur herrscht – und dies ist bei beiden der Fall, sonst könnte dieser Artikel hier nicht erscheinen –, wird die ebenfalls zum gegenwärtigen Zeitgeist gehörende Verengung der Debattenräume (dessen, was man ungestraft sagen darf) nicht mitgemacht. Das finde ich sehr bemerkenswert.

Mein Weg

Ich komme zurück zum Anfang meines Artikels. Was zuerst ein Schmerz und eine große Enttäuschung war, entpuppte sich ein bis zwei Jahre später als Segen. Dank der Distanz zu ihm, zu der Hellinger mich mit seinem Verhalten gezwungen hatte, konnte ich jetzt auch die Schwächen seiner Arbeit klarer sehen. Nicht die des sogenannten „Neuen Familienstellens“. Darüber habe ich in der „Praxis der Systemaufstellung“ noch einen Artikel geschrieben, damit war es dann für mich erledigt. Die Vermischung mit dem „Cosmic Power“-Ansatz, einer esoterischen Praxis, die Marie-Sophie Hellinger (damals noch „Erdödy“) bereits in den frühen neunzigerer Jahren bei einem vietnamesischen Lehrer gelernt hatte und die sie in der Zeit, wo sie meine Kurse besuchte und organisierte, schon mit dem Familienstellen verbinden wollte, habe ich nur am Rande mitbekommen. 

Als Erstes ist mir aufgefallen, dass Hellinger kein Verständnis für die Ablösungsbewegung des Jugendlichen von den Eltern hatte, die auch die Form der Rebellion und radikalen Ablehnung haben konnte. Das hing sicher damit zusammen, dass er selbst, wie erwähnt, keine Jugend in diesem Sinne hatte und 1968 bei seiner Rückkehr aus Südafrika nach Deutschland erschreckt feststellte, dass die damalige Studentenbewegung in ihren Ausdruckformen (und nicht nur darin, sondern auch in manchen Inhalten) manches mit der SA und SS gemeinsam hatte, die er als Kind erlebt hatte. Ich hatte ihm dazu schon 2001 einen langen Brief geschrieben, bin mir aber nicht sicher, ob ich ihn abgeschickt habe – vermutlich nicht. Erst mit dem neu gewonnenen Abstand konnte ich seine Befangenheit bei diesem Thema klarer anschauen und habe es dann gewagt, dies in meinem Buch „Das Leben hat keinen Rückwärtsgang“, das Anfang 2009 erschienen ist, deutlich zu formulieren.

Die Jugend kam in Hellingers Arbeit schlicht nicht vor, er hat entweder mit dem inneren Kind oder mit dem Erwachsenen gearbeitet. Wenn er mit einem Klienten direkt sprach, blieb er fast immer auf der erwachsenen Ebene (wenn jemand sich kindlich verhielt, kam einer seiner berüchtigten Sätze: „Mit Kindern kann ich nicht arbeiten. Du kannst Dich wieder setzen.“), in den Aufstellungen dominierte das Kindliche (was man auch daran sehen konnte, dass dabei immer – sowohl in den Aufstellungen selbst als auch bei den Zuschauern – so herzzerreißend geweint wurde). Das alte „Schlussbild“ einer Aufstellung, bei dem die Kinder in vollständiger Reihe und Ordnung vor den Eltern stehen, ist ein kindliches Bild, genauer: ein kindliches Wunschbild. Der Weg ins eigene Leben, der von den Eltern wegführt, kam in dieser Arbeit nicht vor, ebenso wie die Sexualität im Familienstellen keinen Platz hat. Das sind aber die Themen der Jugend, sie existiert im Familienstellen einfach nicht.

Gleichzeitig sind dies genau die Themen, mit denen unser gesellschaftliches Bewusstsein, die Moderne, vollkommen identifiziert ist. Wenn sie nicht gesehen werden, sind Psychologie und Therapie blind für das, was heute in der Seele geschieht. Die sogenannte „Autonomie“ oder „Selbstbestimmung“ ist der heilige Gral unserer Zeit. Wir nehmen sie ganz selbstverständlich als etwas Gegebenes oder Anzustrebendes, und die gesamte moderne Psychologie sieht ihre Aufgabe darin, diese Autonomie zu stärken. Tatsächlich ist sie jedoch pure Illusion: Es gibt im Leben keine Autonomie, nichts bestimmen wir selbst.[9] Die „Autonomie“ oder „Selbstbestimmung“ ist ein Jugendprojekt, das aus der Notwendigkeit der Jugend kommt, sich von den Eltern lösen zu müssen. Das Bedürfnis nach Selbstbestimmung wird dabei mit der Realität verwechselt. Die Psychotherapie bedient, wenn sie dem folgt und sich zum Ziel setzt, ihre Klienten dabei zu unterstützen, autonom zu werden, ein vollkommen leeres Bild, dem wir die Neurose unserer Zeit verdanken.

Diese Neurose wird leider, so ist jedenfalls mein Eindruck, auch bei den Systemaufstellern nicht gesehen, weil sie selbst – wie fast die gesamte derzeitige Psychologie – darin leben, weil ihr Bewusstsein darin den Ort hat, von dem aus es auf die sogenannten psychischen Probleme schaut. Wolfgang Giegerich, ein Jungscher Therapeut und der in meinen Augen beste und tiefste psychologische Theoretiker der Gegenwart, hat diese „Neurose der Psychologie“, die er als die „metaphysische Krankheit“ der Moderne ansieht, ausführlich analysiert.[10] Die Psychologie, die ihre Entstehung der Neurose verdankt und sie angeblich bearbeitet, ist selbst neurotisch geworden, ohne dies wahrzunehmen. Bert Hellinger hat in den neunziger Jahren die ersten beiden Bücher von Giegerich (die „Psychologie der Atombombe“)[11] gelesen und war tief beeindruckt davon – hat dies dann aber nicht weiter verfolgt.

Für mich war die Lektüre von Giegerich eine Offenbarung, die zu einem neuen Verständnis von Psychologie und auch einem anderen Umgang mit der Aufstellungsarbeit geführt hat. Heute spielt die Aufstellungsmethode als Instrument nach wie vor eine zentrale Rolle in meiner Arbeit, sie ist aber eingebettet in eine Psychologie, die das Bewusstsein unserer Zeit in den Blick nimmt und den einzelnen Menschen immer im Kontext dieses Bewusstseins sieht. Ich mache zwar manchmal, wenn es mir angezeigt scheint, immer noch Familien- oder Symptomaufstellungen (ohne Verstrickungen zu lösen, ich lasse alles nur anschauen), aber im Lebensintegrationsprozess – so nenne ich meine Arbeit seit 2011 – geht es nicht mehr um die Beziehungen des Klienten zu anderen Personen oder seinen Platz in der Familie (in einem „System“), sondern um die Beziehung zu sich selbst, um das Sehen von und das Ja zu sich selbst, wie man ist. Aber das ist ein eigenes Thema, um das es hier nicht gehen soll. 

Bert Hellinger habe ich im Sommer 2013 noch einmal getroffen. Ich hatte einen Ausbildungskurs im Süden von Tschechien, und kurz vorher teilte meine dortige Organisatorin mir mit, dass Hellinger am Wochenende davor in Prag sei. Da ich immer den Wunsch hatte, ihn noch einmal zu sehen und mich in Freundschaft zu verabschieden, bin ich zwei Tage früher gefahren. Als ich sonntags ankam, war gerade die Mittagspause zu Ende. Ich ging in den Saal, Marie-Sophie saß auf dem Podium, aber Bert war nirgendwo zu sehen. Sie begann mit der Arbeit, mit folgenden Worten: „Bei der letzten Aufstellung habt ihr es Bert so schwer gemacht, dass er ganz erschöpft war und sich hinlegen musste.“ Mein erster Impuls war, sofort rauszugehen. Dann habe ich aber gedacht: „Wenn du schon mal hier bist, kannst du dir auch mal anschauen, wie sie arbeitet.“ Den Anfang, dass die vorhergehende Klientin oder deren Aufstellung schuld war, dass Hellinger erschöpft war, hatte ich ja schon mitbekommen. So ging es dann auch weiter mit der nächsten Klientin: Zuerst wurden ihr Schuldgefühle gemacht. Nach kurzer Zeit wirkte sie auf mich vollkommen dissoziiert. Jetzt hatte Sophie sie in der Hand. Es war so manipulativ, dass ich nach knapp zehn Minuten den Saal verlassen habe, ich konnte es nicht mehr aushalten. 

Als ich ins Foyer kam, kam mir Bert Hellinger entgegen. Er sah mich, ein Strahlen ging über sein Gesicht, er sagte „Wilfried!“ und breitete die Arme aus. Nach einer herzlichen Umarmung sagte er dann: „Lass uns die alten Geschichten vergessen.“ Meine Antwort: „Für mich war alles gut, es hat mir geholfen, meinen eigenen Weg zu finden.“ Darauf er: „Ich muss jetzt reingehen.“ Ich: „Und ich muss weiterfahren.“

So ist es auch mit der Arbeit: Er ist seinem Weg gefolgt und ich meinem. Die Verbindung ist geblieben, die Verbindung im Herzen ebenso wie die im Geist. Ich mache seine Arbeit, das, was für mich den innersten Kern dieser Arbeit ausmacht, auf meine Weise weiter.

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[8] Wenn man noch tiefer schaut, entdeckt man darin eine Verbindung zum kultischen Menschenopfer, bei dem das „Opfer“, das zugleich ein(e) Auserwählte(r) war, für das Wohl der Gemeinschaft geopfert wurde. Das war eine heilige Handlung, das Menschopfer ist die Urform jeder Religion und damit eine der ursprünglichsten und tiefsten Bewegungen der Seele. Es gibt aber keine Hinweise darauf, dass dies Hellinger bewusst gewesen wäre.

[9] Wilfried Nelles, Die Welt, in der wir leben. Das Bewusstsein und der Weg der Seele, Köln 2020.

[10] Wolfgang Giegerich, Neurosis. The Logic of a Metaphysical Illness. New Orleans 2013.

[11] Wolfgang Giegerich, Die Atombombe als seelische Wirklichkeit. Versuch über den Geist des christlichen Abendlandes, Zürich 1988, sowie Drachenkampf oder Initiation ins Nuklearzeitalter, Zürich 1989.


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