Am Anfang war die Hypothese – Ohne Hypothese keine Wahrnehmung
Rita Jung, Michael Röhr, Nicoline von Jordans-Moscher, Lorette Purucker, Ludwig Watteler, Rainer Purucker, Elisabeth Bertram
Wie entstehen eigentlich Hypothesen? Was ist „Wahrnehmung“? Und welchen Zusammenhang haben Vermutungen, Vorurteile und Hypothesen mit dem, was wir „wahrnehmen“ nennen? Unser Artikel gibt bemerkenswerte und relevante Perspektiven auf diese Themen.
1. Einleitung
Hypothesenbildung und Wahrnehmung – bitte was? Und was hat der Mond damit zu tun, wenn wir uns die oben gezeigte Fotografie anschauen? Vor allem aber – was hat das alles mit Familien- und Organisationsaufstellungen zu tun? Was geschieht im Gehirn, wenn wir Hypothesen bilden und wahrnehmen? Ist das hier noch der Mond? Nein, das Bild zeigt die Deckenleuchte eines Seminarraums.
Um der Hypothesenbildung auf die Schliche zu kommen, haben wir, der Forschungskreis „Aufstellungsleitung und Gruppe“, uns auf den Weg gemacht. Genau genommen gründeten wir 2019 innerhalb der „DGfS-Akademie – Wissen im Fluss“ den Forschungskreis. Wir wollten so manches genau wissen und dachten: und nun?
Ab der ersten Stunde waren Wolf Maurer, Rita Jung, Nicoline von Jordans-Moscher, Lorette und Rainer Purucker, Michael Röhr, Ludwig Watteler und Klaus Ingbert Wagner mit von der Partie. 2020 kam Elisabeth Bertram hinzu. Klaus Ingbert Wagner macht Pause seit Juni 2022 und Wolf Maurer arbeitete bis März 2023 mit.
Im Laufe der Zeit haben wir bei der Analyse Wert auf die vielen kleinen Bausteine gelegt, um so ein solides Fundament zu haben, auf das wir aufbauen können. Wir haben 2021 auf dem Akademietreffen in Camp Reinsehlen eine „Parallelaufstellung“ durchgeführt. Unsere Idee folgte der Frage: Was passiert, wenn nach einem gemeinsamen Vorgespräch mit einer Klientin und drei Aufstellungsleitenden zeitgleich drei Aufstellungen stattfinden?
Unser Fokus lag dabei darauf, wie Leitung, Teilnehmende und Setting die Entstehung und den Lauf von Aufstellungen beeinflussen, wie Bilder und Hypothesen entstehen und was sich zu diesen beiden Aspekten finden und sagen lässt. Der Fokus lag nicht darauf, die therapeutischen Wirkungen der drei Aufstellungen zu untersuchen oder zu vergleichen. Verabredungsgemäß und im vollen Einverständnis der Klientin gehen wir also nicht darauf ein, wie sich ihre Geschichte weiterentwickelte – diese Vertraulichkeiten waren und blieben innerhalb des geschützten Rahmens zwischen ihr und den Leitenden ihrer drei Aufstellungen. In Abstimmung mit der Anliegengeberin dürfen wir hier jedoch festhalten: Alle drei Arbeiten brachten für sie anschlussfähige Perspektiven ans Licht.
2. Ein Anliegen, drei Aufstellungen: Reinsehlen 2021
Die Geschichte unseres Experiments begann bei der Gründungsveranstaltung der DGfS-Akademie: Für wissenschaftliches Arbeiten, so lernten wir dort, braucht es vergleichbares Material. Daher entstand zunächst ein Fragebogen für Aufstellungsleitende. Diesen haben wir verteilt, ausgefüllt zurückerhalten und ausgewertet. Die Ergebnisse waren teilweise überraschend und sehr vielfältig. Wir wollten es genauer wissen, so kam das Thema Hypothesen in unseren Fokus: Wie entstehen sie, wer bildet wann und weshalb welche Hypothese; und ggf. welchen Einfluss hat das Bilden von Hypothesen auf das Aufstellungsgeschehen?
Der gemeinsame Diskurs über diese Fragen brachte uns dank Rita Jung zu der Idee, eine Parallelaufstellung durchzuführen. Die Gelegenheit dazu bot sich beim Akademie-Treffen 2021 im Camp Reinsehlen. Wir planten drei Aufstellungen mit einer Anliegengeberin und drei Leitenden zeitgleich in drei Räumen. Zwei Aufstellungsleitende kamen aus unserer Forschungsgruppe, eine Leitung sowie die Anliegengeberin kamen aus der Runde der Teilnehmenden. Für unsere Auswertung zeichneten wir alle drei Aufstellungen mit Bild und Ton auf. Alle Anwesenden waren damit einverstanden. Ein reicher Schatz für unsere weitere Forschung war so entstanden.
3. Über die Wahrnehmung zu den Startbildern
Zunächst wurden die Teilnehmenden per Losverfahren auf drei verfügbare Seminarräume aufgeteilt. Im Vorgespräch wurde die Klientin von den Aufstellungsleitenden zu ihrem Thema interviewt und sie formulierte ihr Anliegen.
Zur Auswahl ihrer eigenen Stellvertretung (SV) wurde die Klientin von Raum zu Raum geführt. Die SV der Klientin wählte dann alle weiteren SV gemäß der von der jeweiligen Aufstellungsleitung vorgeschlagenen Elemente und stellte diese sowie sich selbst ins Feld. Die folgenden Abbildungen zeigen das jeweilige Startbild in den drei Räumen.
Quelle: Workshop Hypothesenbildung (2023), Forschungskreis Aufstellungsleitung & Gruppe; Schaubild-Credit: Michael Röhr; lizenzierter Inhalt nach: creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/4.0/
Der Aufstellungsleiter in Raum 1 gab das Anliegen wie folgt wieder: „Die Klientin ist auf einem Auge blind seit letztem August, da ist ihre Tochter ausgezogen mit den Kindern, und es gibt einen Kontaktabbruch, sehr viel Schmerz, es ist ärztlich nicht abgeklärt.“ Im Startbild gab es neben der SV für die Klientin weitere SV für den Schmerz, die Abwehr des Schmerzes, das Auge und die Tochter (siehe Abb. 1). Bemerkenswert: Der Aspekt „Abwehr des Schmerzes“ kam zum Beispiel im Wortlaut des Vorgesprächs nicht vor. Als Starthypothese gab der Aufsteller nach der Aufstellung in unserem Fragebogen an:
„Ein alter, vielleicht auch aktueller Schmerz wurde vermieden und will gesehen werden und will seinen Platz in der Seele der Klientin finden.“
Quelle: Workshop Hypothesenbildung (2023), Forschungskreis Aufstellungsleitung & Gruppe; Schaubild-Credit: Michael Röhr; lizenzierter Inhalt nach: creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/4.0/
Für die Aufstellungsleiterin in Raum 2 ergab das Vorgespräch Folgendes:
„Das Anliegen der Klientin war, dass es wieder Licht wird, dass sie wieder das Licht sehen kann.“
Hier bestand das Startbild aus SV für die Großmutter, den Großvater und das Kind, das sich später als Mädchen herausstellte. Die SV für die Klientin war anfangs nicht selbst im Feld und wurde erst später gebeten, ins Geschehen einzutreten (siehe Abb. 2). Im weiteren Verlauf kamen weitere SV hinzu. Die Starthypothese der Aufstellerin war laut späterer schriftlicher Angabe:
„Was muss sichtbar werden? Wo gehört der Schmerz, die Wut, die Ohnmacht im System hin? Wo macht es Sinn? Wie weit zurück?“
Bemerkenswert: An der Auswahl der Repräsentanten kann man sehen, dass die Hypothese in Richtung Ahnen ging.
Quelle: Workshop Hypothesenbildung (2023), Forschungskreis Aufstellungsleitung & Gruppe; Schaubild-Credit: Michael Röhr; lizenzierter Inhalt nach: creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/4.0/
In Raum 3 benannte die Aufstellungsleiterin für die SV der Klientin das Anliegen folgendermaßen:
„Der Satz, den ich für dich mitgenommen habe, heißt: dass ich wieder sehen kann.“
SV gab es hier für die Klientin, die Liebe, den Fluch, das rechte Auge, das linke Auge, den Schock und das Lebenslicht. Im Verlauf kamen weitere SV hinzu. Als Starthypothese benannte die Aufstellerin anschließend im Fragebogen:
„Die Hypothese war, dass das Leid in der Familie sich schon verselbstständigt hatte. Etwas Großes muss/kann angenommen werden, um die dahinterliegenden Vorgänge abzubilden. Dieses Größere findet Ausdruck in abstrakten Bildern: Fluch, Lebenslicht, und real z. B. im Ausdruck Schock.“
Bemerkenswert: Von Schock hat die Klientin im Vorgespräch zwar gesprochen, die Worte Fluch und Lebenslicht kamen jedoch nicht vor.
Diese komprimierte Zusammenschau der drei Aufstellungssituationen führte zu einer ersten bemerkenswerten Erkenntnis: Unsere Parallelaufstellung zeigte, dass drei Personen das identische Vorgespräch auf individuelle Weise in Aufstellungen übersetzen – Anliegenformulierung, Startbild und Stellvertreterauswahl unterscheiden sich deutlich voneinander.
Wieso eigentlich – wie lässt sich das erklären?
4. Die beste Vermutung: Wie Wahrnehmung entsteht
So tauchte mitten im Fokus unseres Forschungsinteresses das Phänomen Wahrnehmung auf: Als Ursache für die auftretenden Differenzen vermuteten wir die unterschiedlichen Weisen der Aufstellungsleitenden, das Erzählte zu erkennen, aufzufassen und einzuordnen.
Deshalb fragten wir uns: Was genau geschieht, wenn wir wahrnehmen? Wie funktioniert überhaupt, was wir Wahrnehmung nennen? Was macht unser Gehirn da eigentlich?
An dieser Stelle geben wir einen Überblick über die tiefgreifenden Ergebnisse unserer Recherche, die uns zuerst als Nebenaspekt erschienen und die sich im Lauf der Zeit als zentrales Thema zu erkennen gab.
Helmholtz und seine beste Vermutung
Am Anfang unseres Überblicks steht eine der Koryphäen der modernen Wissenschaft: der deutsche Physiker und Physiologe Hermann von Helmholtz (1821-1894). Durch die Erforschung optischer Phänomene und des Sehens gelangte Helmholtz in den frühen 1860er Jahren zu der Ansicht, dass das Gehirn eine Art Vorhersage-Organ sei:
Was wir wahrnehmen, ist die beste Vermutung des Gehirns
über die Sinneseindrücke, die es erhält.
Helmholtz fasste damit seine Annahme zusammen, dass unser Gehirn aktiv an der Interpretation der Informationen, die es durch die Sinne empfängt, beteiligt ist. Er betonte, dass das Wahrnehmungserlebnis, das wir haben, keine exakte Wiedergabe einer Realität sei. Sie sei eher eine Art Schätzung, eine Vermutung darüber, was in unserer Umgebung vor sich geht. Unser Gehirn verarbeitet die sensorischen Signale und erstellt ein Modell von der Welt – nach bestem Vorwissen, nach bester Vermutung.
Das ist buchstäblich revolutionär, denn es dreht unsere Alltagserfahrung scheinbar auf den Kopf: Wahrnehmungen sind das Ergebnis von Vermutungen. Sie sind nicht von vornherein gegeben. Noch bevor wir etwas wahrnehmen, hat unser Hirn bereits Vermutungen aufgestellt: Es bekommt Signale von Sinnesorganen, und was wir schließlich „für wahr nehmen“ – also sehen, hören, schmecken, riechen, fühlen usw. – ist nichts anderes als die beste Vermutung des Gehirns über die Ursachen dieser Signale. Mit dieser Auffassung war Helmholtz der modernen Hirnforschung nicht weniger als 110 Jahre voraus.
Ich sehe was, was du nicht siehst
Bei „beste Vermutung“ denken wir vielleicht, es gehe darum, einigermaßen komplexe Eindrücke zu erfassen. Doch basieren bereits einfachste Wahrnehmungen auf Vermutungen: Wir wollen das anhand von Beispielen veranschaulichen, die uns unmittelbar erleben lassen, wie wichtig Vermutung und Vorurteil für uns sind, um uns in der Welt zurechtzufinden und mit ihr in Beziehung zu treten.
Unser erstes Beispiel behandelt eine visuelle Täuschung: Das Edelstein’sche Schachbrett (Abb. 4). Auf dem linken Schachbrett sehen wir zwei Felder A und B: A erscheint als dunkleres und B als helleres Feld. Eine scheinbar triviale Feststellung. Doch verblüffenderweise ist sie falsch: Es macht bloß den Anschein, als wären die Grautöne verschieden – tatsächlich sind sie identisch. Das rechte Schachbrett veranschaulicht das: Verbindet man die beiden Felder A und B mit Balken im Grauton von A, dann können wir sehen, dass B denselben Grauton hat.
Das hat sehr viel mit Systemaufstellungen zu tun. Denn was hier vor sich geht, ist, dass das Gehirn unbewusst sein Vorwissen anwendet: „Schachbretter sind abwechselnd dunkel und hell, und zugleich verdunkelt ein Schatten die Oberflächen, auf die er fällt.“ Wir sehen also das Feld B als heller an, als es in Wahrheit ist, um diesem Vorwissen Rechnung zu tragen. Und wir können nichts „dagegen“ tun. Es ist übrigens ein Beispiel für den fantastischen Erfolg unseres visuellen Systems und nicht für sein Versagen: Das visuelle System ist ein eher unzuverlässiger physikalischer Belichtungsmesser. Seine eigentliche Aufgabe ist vielmehr, die Ursachen unserer Sinneseindrücke in Bezug auf ihre Bedeutung in der Welt zu interpretieren. Dazu brauchen wir Vorwissen – und einmal verinnerlicht können wir nicht mehr dahinter zurück.
Ich sehe was, was ich schon kenn
Unser zweites Beispiel zeigt, wie rasch wir solches Vorwissen verinnerlichen: Wie unser Gehirn neue Informationen einbeziehen kann, um die bewusste Wahrnehmung zu verändern. Abbildung 5 zeigt ein sogenanntes Mooney-Bild. Unwissende sehen darin üblicherweise nichts als ein Gebilde aus schwarzen und weißen Flecken mit unklarer Bedeutung.
Das nötige Wissen, um das Bild „sehen“ zu können, finden wir in Abbildung 6: Hier zeigt sich uns das gleiche Gebilde mit vollständiger Farbinformation. Die Szene wird bedeutungsvoll – mit mindestens einer Frau, einem Hut und einem Pferd.
Betrachten wir nun wieder das Mooney-Bild. Merken Sie, wie eine Ahnung vom „wahren“ Bild hängen geblieben ist? Bei längerer Betrachtung beider Motive sollte es allmählich funktionieren: Wir sehen Frau, Pferd und Hut in das Schwarz-Weiß-Gebilde hinein.
Und das finden wir bemerkenswert. Das Gebilde verändert sich doch gar nicht!? Das Einzige, was sich verändert, sind einige Kenntnisse unseres Gehirns. Kenntnisse darüber, was die schwarzweißen Flecken bedeuten (könnten) – Vorwissen ist entstanden. Und wir können nicht hinter dieses Vorwissen zurück. Was geht da vor?
Quelle: Ri Channel, Youtube, The Royal Institution; Seth, Anil (2017); What in the world is consciousness? Bild-Credit: Paul Fletcher. Lizenzierter Inhalt nach: creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/4.0/
Thalamus – Tor zum Bewusstsein
Die Grundidee ist einfach: Das Gehirn ist in seinem knöchernen Schädel eingeschlossen, sein Zugang zur Außenwelt ist indirekt. Was es empfängt, sind Eindrücke der Sinnesorgane, die intensiv mit dieser Außenwelt in Verbindung stehen. Sie treffen in Form mehrdeutiger Signale ein, gehen überwiegend durch den Thalamus und werden an verschiedene äußere Hirnregionen – die Großhirnrinde – verteilt (vgl. Abb. 7). Dieser Tätigkeit verdankt der Thalamus seinen Spitznamen: „Tor zum Bewusstsein“.
Quelle: Ri Channel, YouTube, The Royal Institution; Seth, Anil (2017); What in the world is consciousness? Schaubild-Credit: Nummenmaa et al., PNAS, 2013; Lizenzierter Inhalt nach: creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/4.0/
Wie Sinneseindrücke, Thalamus und Großhirnrinde in Beziehung gehen, veranschaulicht das interne Modell: Mit ihm beschreiben wir aus heutiger Sicht, was Helmholtz entdeckte. Nehmen wir unser Schwarzweißgebilde als Beispiel, also das Sehen: Der Thalamus sitzt zwischen den Augen vorn im Kopf und der sogenannten Sehrinde im Hinterkopf (vgl. Abb. 8). Große Mengen optischer Daten – im Schaubild dargestellt als ein Paket aus Einsen und Nullen – werden dorthin übermittelt. Aus diesem Grund führt eine erstaunliche Zahl von Verbindungen vom Thalamus zur Sehrinde – eine ganze Datenautobahn.
Noch viel erstaunlicher ist allerdings: Die Datenautobahn für den Rückverkehr ist zehnspurig! Die Zahl der Verbindungen, die in die Gegenrichtung führen, ist zehnmal so groß. Die Sehrinde übermittelt dem Thalamus sehr genaue Erwartungen über die mögliche Welt da draußen – Hypothesen darüber, was dort los ist. Der Thalamus vergleicht dies mit den Informationen vom Auge. Wenn diese den Erwartungen entsprechen („Ich erkenne Frau, Hut und ein Pferd“), dann fließt weniger Information an das visuelle System zurück. Das heißt, in der Sehrinde kommt an, was den Erwartungen widerspricht. Es kommt an, was sich nicht „wegprognostizieren“ lässt. Menschen kreieren wundervolle Spiele, die auf diesem Phänomen beruhen – das Puzzlespiel zum Beispiel.
Die Anzahl der Verbindungen für den Rückstrom an Daten aus den Hirnregionen an den Thalamus übertrifft diejenige für den Zustrom aus den Sinneseindrücken um das Zehnfache: Das Hirn produziert Vermutungen über die Ursachen der Sinneseindrücke – und überprüft diese mit Hilfe der Sinnesorgane, in unserem Beispiel mit dem Auge. Das Endergebnis dieses Vorgangs nennen wir „Wahrnehmung“: Anfangs nehmen wir nur ein bedeutungsloses Schwarzweißgebilde wahr. Mit Hilfe von Vorwissen nehmen wir später eine Szene mit Pferd, Frau und Hut wahr.
Wahrnehmen – Schlussfolgern aus Vorwissen
Wahrnehmung ist nach dieser Auffassung ein Prozess der Schlussfolgerung. Das Gehirn interpretiert mehrdeutige sensorische Signale im Hinblick auf Vorerwartungen, -urteile oder Überzeugungen darüber, wie die Welt ist. Was wir sehen, ist die beste Vermutung des Gehirns über das, was da draußen los ist. Und ohne Vermutung sehen wir etwas Bedeutungsloses.
Dass dies ebenso im Bereich des Hörens funktioniert, können sich neugierige Leser auf der Websitehttps://docs.google.com/presentation/d/1wkKZoCltg5KuD8QnQwjSYRGEiQiRo3KfAkCjajqc30I/edit?usp=sharing (Google-Drive-Link; i. d. R. keine Anmeldung erforderlich) mit einigen amüsanten Beispielen vergegenwärtigen. Wichtig ist an dieser Stelle, dass das Zuhören, das Lauschen einer Erzählung keine Ausnahme bildet: Unser Hirn beginnt sofort, Vermutungen über das Gehörte zu bilden, und verknüpft es mit visuellen und sonstigen Körpereindrücken zu Wahrnehmungen. So zeigt Abbildung 9, wie unterschiedlich Wärmebilder ausfallen, je nachdem, in welchem Erregungszustand wir uns befinden. Die Frage nach dem Körpergefühl („Wo spürst du etwas und was spürst du?“) ist also auch aus Sicht von Helmholtz extrem hilfreich, um sich selbst auf die Schliche zu kommen.
Quelle: Ri Channel, YouTube, The Royal Institution; Seth, Anil (2017); What in the world is consciousness? Schaubild-Credit: Nummenmaa et al., PNAS, 2013; Lizenzierter Inhalt nach: creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/4.0/
Fazit für die Aufstellungsarbeit
Wahrnehmen ist beste Vermutung. Diese Erkenntnis bedeutet auch: Ein Anliegen aufzustellen heißt, unbewusst mit besten Vermutungen zu arbeiten. In Vorgesprächen durchleben wir Geschichten mit allen Sinnen und Empfindungen. Dabei haben alle Beteiligten unbewusst unzählige beste Vermutungen, die auf Sinneseindrücken basieren: auf Wortwahl, Stimmlagen, Klängen, Mimiken, Berührungen, Gerüchen, Körperregungen.
Um das alles zu erfassen, verständigen wir uns am Ende eines Vorgesprächs gemeinsam auf etwas, das sich in jenem Moment aus Bruchstücken zusammensetzt: Die Anliegenformulierung; auch sie ist eine bruchstückhafte Auswahl (vgl. Abb. 10). Und dann arbeiten wir mit Stellvertretungen und Hypothesen daran, diesem Anliegen gerecht zu werden.
Quelle: Workshop Hypothesenbildung (2023), Forschungskreis Aufstellungsleitung & Gruppe; Schaubild-Credit: Michael Röhr; lizenzierter Inhalt nach: creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/4.0/
Wir halten es für wichtig, uns klarzumachen, dass „bloße“ Wahrnehmungen bereits das Resultat von Vermutungen sind. Was zunächst so revolutionär erscheint, ist zugleich aber auch der erforderliche Ausgangspunkt für das Weiterarbeiten:
Wir können jetzt erkennen, dass die Tatsache, dass unser Wahrnehmungserleben eine Vermutung unseres Gehirns ist, überhaupt erst die Basis für die Wandlungskraft von Familienaufstellungen bildet. In Familienaufstellungen können wir als Aufstellungsleitende dazu beitragen, dass unsere Klient:innen ein verändertes Verständnis für die Dynamiken innerhalb ihres Systems erlangen, indem wir sie ermutigen, ihre Wahrnehmungen anders zu erleben. Um neue Vermutungen zuzulassen.
5. Hypothesenbildung
Halten wir fest: über Vermutungen, die auf Vorwissen basieren, gelangen wir zu Wahrnehmungen, und erst daraus entwickeln wir als Beteiligte an einer Aufstellungsarbeit schließlich das, was der Fachjargon „Hypothesen“ nennt.
Bei der Parallelaufstellung ist uns aufgefallen, dass die Anliegengeberin in dem Vorgespräch erwähnte, ihre Mutter habe das gleiche Symptom gehabt. Diese Spur wurde von keiner Aufstellungsleitung verfolgt. Womit hängt das zusammen? Wie entstehen so unterschiedliche Wahrnehmungen bei den Aufstellungsleitenden und daraus resultierend so unterschiedliche Hypothesen bei gleicher Faktenlage?
Eine Antwort darauf lautet: Verschiedene Einflussfaktoren führen zu individuell unterschiedlichem Vorwissen, auf das wir als Aufstellungsleitung zurückgreifen, bevor unsere Wahrnehmungen entstehen (vgl. Abb. 11).
Quelle: Workshop Hypothesenbildung (2023), Forschungskreis Aufstellungsleitung & Gruppe; Schaubild-Credit: Ludwig Watteler; lizenzierter Inhalt nach: creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/4.0/
Einige sagen von sich „Ich stelle hypothesenfrei auf“. Nach unseren Erkenntnissen ist das nicht möglich. Aus unseren Fragebögen und durchgeführten Workshops ergaben sich zahlreiche Bezeichnungen für das, was wir Hypothese nennen. Einige von ihnen verweisen tatsächlich darauf, ein Rückgriff auf angewandtes Vorwissen zu sein (vgl. Abb.12).
Quelle: Workshop Hypothesenbildung (2023), Forschungskreis Aufstellungsleitung & Gruppe; Schaubild-Credit: Ludwig Watteler; lizenzierter Inhalt nach: creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/4.0/
Der Exkurs in das Thema „Wie entsteht Wahrnehmung“ zeigt, dass man nur erkennt, was man kennt. Es sind unsere jeweils ganz persönlichen Filter, die dafür sorgen, wie wir Informationen verwerten, Hypothesen bilden. Es ist gut, denken wir, Hypothesen zu kennen, die eigene Hypothesenbildung immer wieder zu reflektieren und zu überprüfen. Ebenso wichtig ist es aber auch, dem eigenen Vorwissen achtsam auf der Spur zu sein:
- Habe ich z. B. Lieblingshypothesen oder Hypothesen, die bei mir nicht vorkommen?
- Sind meine eigenen Hypothesen selbsterfüllende Prophezeiungen, Filter, durch die ich die Aufstellung wahrnehme, oder gute Intuition?
Zugleich kann eine breit gefächerte Auswahl an Hypothesen ein Schatz sein, auf den wir bei unserer Arbeit zurückgreifen können. Durch unsere Forschung ist bisher eine Hypothesen-Sammlung mit über 70 verschiedenen Möglichkeiten an Hypothesen entstanden. Eine Vielfalt, die wir gerne zur Verfügung stellen.
6. Zusammenfassung
- Unser Arbeiten mit Aufstellungen basiert auf Wahrnehmung; also auf Vorwissen, Annahmen, Vorurteilen und Absichten: Wahrnehmung ist ein Vorgang rund um Vermutungen und Vorhersagen unseres Gehirns über eintreffende Sinneseindrücke. Wiedererkennung spielt dabei eine große Rolle.
- Anliegenformulierung, Startbild und Stellvertreter:innenauswahl sind Konsequenzen dieses Vorgangs.
- Auch doppelt verdecktes Aufstellen kann nicht hypothesenfrei sein. Zugleich kommt es diesem Anspruch im Prozess vermutlich am nächsten: Wir minimieren unsere Vermutungen, die auf Muster-Wiedererkennung beruhen. Wir bleiben offen.
- Als Aufsteller:innen verwenden wir viele synonyme Ausdrücke für das Wort Hypothese. Wir finden es dienlich und hilfreich, wenn uns das bewusst ist.
- „Hypothesenfreies Arbeiten“ kann mithin immer nur ein Versuch sein.
- Selbstreflexion – gerade im Hinblick auf Hypothesen und auch auf sogenanntes „gesichertes“ Erfahrungswissen – scheint für Aufstellende ein essenzieller Bestandteil der persönlichen Weiterentwicklung zu sein.
7. Ausblick
Mit unseren Aktivitäten und Erkenntnissen sind wir der Meinung, dass es im Bereich „Aufstellungsleitung und Gruppe“ noch viel zu erforschen und zu betrachten gibt. Das motiviert uns und lässt uns Schritt für Schritt weitergehen.
Zur Inspiration für die Aufstellungsarbeit teilen wir gerne unsere Ergebnisse: Dazu entwickeln wir Workshops und Seminare für Regionaltage, Weiterbildungen und für die Akademie Lehre. Aktuelle Informationen finden Sie auf der Internetseite der DGfS www.systemaufstellung.com.
Reihenfolge alphabetisch: Elisabeth Bertram, Nicoline von Jordans-Moscher, Rita Jung, Lorette Purucker, Rainer Purucker, Michael Röhr, Ludwig Watteler