von Hildegard Wiedemann
„Es war einmal vor langer Zeit …“ So beginnen viele Märchen. Wenn Kinder Märchen hören, bekommen sie große Augen und offene Münder. Erwachsene lauschen staunend. Unbewusst haben sie die rationale Ebene verlassen und öffnen ihre Sinne für die geheimnisvolle Welt des Unbewussten. Sie identifizieren sich unbemerkt mit einer Märchengestalt, meist dem Helden oder der Heldin. Der Einfachheit halber spreche ich im weiteren Verlauf vom Helden.
Die alten Volksmärchen spielen im „ewigen Jetzt“. Es gibt keine realen Namen noch eine reale Zeit. Sie erzählen in anschaulichen Bildern von den Themen der Menschen, von uns. Es geht um die Trennung von den Eltern und um verzauberte Gestalten, die auf Erlösung warten, die „verstrickt sind“. Es geht um Geburt, Krankheit, Tod, Gerechtigkeit und Liebe.
Zu Beginn des Märchens wird eine Not oder ein Problem dargestellt. Die Zuhörer lassen sich unmerklich vom Vertrauen des Helden berühren, dessen Weg durch gefährliche Prüfungen führt und der den Tod nicht scheut. Sie spüren die Kraft, die in der Bereitschaft der völligen Hingabe, auch des eigenen Lebens, liegt. Die Annahme des notvollen Weges, der Mut und die Hingabefähigkeit des Helden bewirken, dass er die Lösung der anfänglichen Not herbeiführt. Viele Märchen enden zudem mit der Hochzeit des Helden. In diesem wunderschönen Bild wird für die Zuhörer spürbar, dass die Liebe fließt, was einer tiefen Sehnsucht im Menschen entspricht. Manchmal heißt es auch, dass das Paar “glücklich lebte und in Weisheit regierte“. Auch darin liegt eine unbewusste Verheißung für den Zuhörer: „Wenn ich die Not in meinem Leben annehme und wandle wie der Held im Märchen, dann werde ich froh und glücklich und kann meinen Lebensauftrag erfüllen!“ Wer sich mit dem Helden identifiziert, der stärkt sein Vertrauen, spürt sein Potenzial und freut sich auf den nächsten Schritt in seinem Leben. Wer sich mit einer sogenannt „bösen Gestalt“ identifiziert, der erfährt, dass sich diese Gestalt am Ende wandelt, z. B. durch den Tod im Feuer.
Der Lösungsweg
Wenn wir die Gestalten im Märchen als innere Anteile ansehen, können wir erleben, wie sich diese Kräfte im Unbewussten auf geheimnisvolle Weise selbst organisieren, so dass sie eine Lösung für ein Problem finden. Der Held, der Mensch, wird handlungs- und beziehungsfähig. Ich erlebe das Stellen von Systemen ähnlich geheimnisvoll und wirksam wie das Stellen von Beziehungen im Märchen. Die Erlösung von verzauberten Gestalten im Märchen entspricht der Auflösung von Verstrickungen beim Stellen. Wir können regelrecht beobachten, wie erlösend beides für die Repräsentanten und die Zuschauer ist.Volksmärchen stellen in Bildern Lösungswege darfür allgemein menschliche Probleme. Sie vermitteln eine verdichtete Menschheitserfahrung. Unser Gedächtnisarbeitet mit dem Speichernvon Bildern. Unser Unbewusstes ist voller Bilder. Der bildhaft dargestellte Lösungsweg im Märchen stimuliert die selbst regulierenden Kräfte im Unbewussten und regt sie an, für das eigene Anliegen einen entsprechend individuellen Lösungsweg zu finden. Ein innerer, kreativer Prozess wird durch das Hören und Arbeiten mit Märchen ausgelöst.Die positiven Bilder der lösenden Situationen im Märchen wirken heilvoll in der Psyche der Menschen. Beispielsweise stellt Gerald Hüther das anschaulich dar in seinem Buch: Die Macht der inneren Bilder, 2014. Luise Reddemann arbeitet in der Trauma-Therapie mit der Imagination als heilsamer Kraft, die NIG mit der Imaginativen Gestaltung. In ähnlicher Weise öffnet die Arbeit mit Märchen über die Bilder einen inneren Raum für die persönliche Entwicklung.
Die initiatische Arbeit mit Märchen
Die Initiatische Therapielernte ich bei Graf Dürckheim und lehrte sie in seinem Bildungszentrum.Darauf basierend entwickelte ich die Initiatische Märchenarbeit, IMA(r). Initiatisch kommt vomlateinischen”inire” =hineingehen, Es bedeutet, sich dem inneren Raum zuzuwenden, zu sich selbst zu kommen, zu seinem Wesenskern, dem Geheimnis, das der Menschzutiefst ist. In der Initiatischen Arbeit mit Märchen werden die Menschen in der äußeren Realität abgeholt und in die ganz individuelle, innere Wirklichkeit geführt. Jeder erlebt auf seine Weise das Märchen und erfährt die für ihn in diesem Moment stimmige Bedeutung. Die eigene Betroffenheit, das Berührtsein ist in dieser Arbeit wesentlich. Eine allgemein gültige, kognitive Deutung ergibt sich daraus meist von selbst am Ende des Seminars.
Das Setting
Bevor ich mit einem Märchen arbeite, gliedere ich es in die Einleitung, etwa 3-5 Teile und den Schluss. Zu jedem der Abschnitte überlege ich mir, welche Arbeitsweise diesen Teil am besten in die Erfahrung für die Teilnehmer bringen kann. Zudem schaue ich, dass die Arbeitsweisen verschiedene sensorische Kanäle ansprechen, so dass die unterschiedlichen Menschen die Chance haben, von mindestens einer Arbeitsweise angesprochen zu werden. Die Vielfalt der Arbeitsweisen ermöglicht eine ganzheitliche Erfahrung. Ich arbeite mit Imagination, Gebärden, dem Stellen, Malen, Gestalten und dem Tanzen. Jeder Abschnitt des Märchens wird von mir vorgelesen, eingeleitet und abgeschlossen mit einem Cymbelton.
Zu Beginn eines Märchenseminars bitte ich die Teilnehmer ihr Anliegen in einem Satz zu formulieren, diesen aufzuschreiben und in der Runde mitzuteilen. Das Anliegen ergibt sich aus der persönlichen Lebenssituation jedes Einzelnen. Erstaunlicherweise gibt es manchmal regelrechte „Gruppenthemen“, zum Beispiel: „Warum werde ich nicht gesehen? Oder: was kann ich tun, um gesehen zu werden?“ (ein Aschenputtel-Motiv). Im Laufe eines Seminars gibt es immer wieder Phasen der Stille, in denen die Teilnehmer wichtige Erfahrungen notieren können. Lesen sie am Ende nochmals ihre Aufzeichnungen, dann ergibt sich meist eine schlüssige Antwort, ein Lösungsschritt zu dem anfänglichen Anliegen. So kann jeder Teilnehmer im Seminar seinen persönlichen Prozess machen, ohne dass die ganze Gruppe daran teilhat. Zum Abschluss lade ich alle ein, einen Dreizeiler zum eigenen Prozess zu schreiben. Wer möchte, kann diesen vorlesen.
Nach der Begrüßungsrunde, in der dieTeilnehmer ihren Vornamen und ihr Anliegen mitteilen, lese ich die Einleitung des Märchens vor, meist gefolgt von einer Aufstellung. In der Einleitung ist das Thema des Märchens enthalten, das Problem, das gelöst werden möchte. Eine Aufstellung hilft, die Not in die sichtbare Erfahrung zubringen.
Wenn ich eine Märchenszene aufstellen möchte, frage ich die Teilnehmer, ob jemand besonders betroffen von der vorgelesenen Sequenz ist. Ist das der Fall, so bitte ich diesen, sich rechts neben mich zu setzen und frage ihn nochmals nach seinem Anliegen, das er in der Anfangsrunde mitgeteilt hat. Danach nennt er die Gestalten dieser Szene, die für ihn wichtig sind, sucht dafür Repräsentanten aus und stellt diese in gesammelter Stille auf. Während des Stellens und danach bin ich im Kontakt mit ihm, frage nach, was ihn berührt und was das gestellte Bild mit seinem Leben und/oder Anliegen zu tun hat. Sollte sich niemand melden für die Aufstellung der Einleitung, dann wähle ich die Repräsentanten für diese Szene aus und bitte sie, sich ihren Platz langsam in der Mitte der Gruppe zu suchen.
Für die folgenden Abschnitte des Märchens biete ich unterschiedliche Arbeitsweisen an, die ich, wie oben berichtet, vorbereitet habe. Ich wähle sie entsprechend dem Gruppenprozess aus.
Fallbeispiel
Am Beispiel des Grimmschen Märchens „Die Alte im Wald“ möchte ich das Stellen von Beziehungen im Märchen etwas anschaulicher machen. Das Märchen beginnt damit, dass ein Dienstmädchen mit seiner Herrschaft durch einen Wald fährt und Räuber die Herrschaft töten. Das Dienstmädchen überlebt, da es sich hinter einem Baum versteckt hatte. Als die Räuber mit der Beute fort sind, kommt es hervor, sieht das Massaker und weint bitterlich. Eine Teilnehmerin des Seminars war von der Einleitung sehr betroffen und setzte sich neben mich. Ihr Anliegen war: „Wie kann ich das Chaos in meinem Leben meistern?“ Sie stellte „die Herrschaft“ als getrenntes Paar auf und das Dienstmädchen in etwas Entfernung. Der Herr fühlte sich erdrückt von der Verantwortung seiner Herrschaft. Die Herrin war mit dem herrschaftlichen „Schatz“ (später die „Beute“) beschäftigt. Das Dienstmädchen fühlte sich unwichtig, nicht gewürdigt mit seiner Arbeit, wie ein Aschenputtel. Die Aufstellerin teilte mit, dass sie sich sehr oft so fühle.
Danach stellte sie drei Räuber auf, die die Herrschaft töteten und den Schatz raubten. Der Tod durch die Räuber war für das Herrschaftspaar erlösend. Sie hatten beide in Rollen gelebt und waren froh, dass das vorbei war. Die Repräsentantin für das Dienstmädchen kam hinter dem Baum hervor und schaute. Sie war völlig erstarrt. Es war für sie gut, sich im Schutzraum eines Baumes dem Schrecklichen auszusetzen. Dann begann sie zu weinen. Das Weinen, der Ausdruck ihrer Gefühle, wirkte heilvoll. Die anfängliche Starre löste sich. Die Aufstellerin sagte, dass sie diese Reglosigkeit und Ohnmacht sehr gut kenne. Sie müsse wegen eines Umzugs ihr Haus ausräumen, in dem sich seit etlichen Jahren sehr viel angesammelt habe. Angesichts des Chaos fühle sie sich ohnmächtig und hilflos. Sie wisse nicht, wo sie beginnen solle. Schließlich sagte die Repräsentantin auf die Toten blickend: „Ja, so ist das. Es ist vorbei! Und es tut weh.“ Dann ging sie zu der toten Herrin, zeigte ihre Trauer und Liebe, wurde von der toten Herrin erstmals gesehen und erhielt einen herzlichen Dank von ihr. Danach ging sie zu dem toten Herrscher. Auch dieser sah sie an und sprach seine Anerkennung für ihre gute Arbeit aus. Er war etwas distanzierter als seine Frau. Die Situation wirkte wie der Abschied der Klientin von ihren Eltern in Liebe. Ich fragte sie, was diese Szene in ihr anspreche. Sie meinte, dass sie von ihren Eltern nie gesehen wurde und sich immer in der dienenden Rolle befunden habe. So gesehen zu werden erlebe sie wie Balsam. Die Repräsentantin sagte: Die alte Herrschaft ist vorbei. Es ist gut so. Nun bin ich frei. Aber wie geht es weiter? Ich hab keine Ahnung.“ Da beendete ich die Aufstellung, da das Märchen den Fortgang darstellt. Die Aufstellerin sagte, dass sie sich nun kraftvoller fühle, und in ihrem Haus viel wegwerfen wolle. Bei der Aussicht auf die neue Gestaltungsfreiheit fühle sie sich etwas bang, aber auch leicht freudig.
Im Märchen folgt nun die vergebliche Suche eines Weges und das Ausruhen unter einem Baum im Vertrauen auf Gott, auf das LEBEN. Ein Täubchen kommt und gibt ihr Schlüsselchen zu unterschiedlichen Bäumen, in denen sie Speise, Trank und königliche Kleider findet. Diesen Teil des Märchens ließ ich malen. In der Bildbesprechung begleite ich die Menschen zu dem, was sie auf ihrem Bild in der Tiefeberührt. Dadurch kommen sie zu sich, zu ihrem Anliegen und können unbekanntes Potenzial und Lösungsschritte entdecken. Es zeigte sich in der Gruppe, wie wichtig es ist, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen, sie zu äußern, gehört zu werden und zu bekommen, was man braucht.