
Jürgen Hasse (Text) und Sara F. Levin (Fotografie), Betäubte Orte – Erkundungen im Verdeckten, Freiburg 2019, Karl Alber Verlag, ISBN 978-3-495-49020-4
Auf der Suche nach Literatur, die sich mit den Phänomenen Atmosphäre und Stimmungen, mit Raumwirkung und Raumbedeutung befasst, habe ich unter anderem Bücher von Jürgen Hasse gefunden, em. Professor für Humangeografie an der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt am Main. Seinen phänomenologischen Blick auf das Leben und Erleben in städtischen Räumen, auf Mensch-Natur-Verhältnisse und Aspekte der Ästhetik fand ich auch spannend und bereichernd für unsere Aufstellungsarbeit, vor allem für die Rolle der Leitung.
Fragen wie die, was uns jenseits unserer offensichtlich-alltäglichen Narrative im Verborgenen klammheimlich betäubt und wie wir damit umgehen, waren zum Beispiel eine Absicht dieses Buchprojektes. Solche Fragen sind anthropologisch, soziologisch, philosophisch und psychologisch interessant, ob sie unsere Beziehung zu Orten als „korresponsive Milieus“ untersuchen – wie im Buch – oder die Beziehung als Spezies untereinander in den Fokus nehmen – wie wir das als Aufsteller*innen spätestens dann tun, wenn sich diese tauben Stellen als Störung offenbaren und wir als professionelle Zwischenraum-Gestaltableser oder Ortsbegeherinnen in Familienfeldern gefragt sind. Als Aufsteller*innen bewegen wir uns dabei im Spannungsfeld „denkender und nachspürender Selbstgewahrwerdung“ (S. 214) – genau das macht auch dieses Buch mit den nebeneinander gesetzten ästhetischen Mitteln von Text und Bild.
Vordergründig ist dies allerdings zunächst ein Buch über Topologie. Als solches ist es gegliedert und bebildert in zum Thema passende Begriffe wie „Brachen“, „Archive“, „Zersiedelung“, „Leerstände“… oder „Hafträume“ – realräumliche Bezeichnungen zu Ausschnitten unserer Alltagswelten. Auch die fotografischen Kommentare von Levin binden sich ausnahmslos an (menschenleere) Orte. Was Hasses Worte bildhaft beschreiben, zeigen Levins Bilder sprachlos beredt. Sie sind Ausschnitte von Trostlosigkeit, Unbewegtheit, Leere, Verlassenheit … und unterstreichen in ihrer alltagsweltlichen Schnappschussqualität das Fehlen des schönen Scheins, den technisch und fotografisch optimale Abbilder so nicht hätten bieten können.
Das folgerichtig in Anlehnung an einen Kunstband gestaltete Buch möchte – so eine weitere Absicht – durch das unscharfe Flirren zweier Kunstformen zwischen zeigen(Bild) und bedeuten (Rede), wie selbst innerhalb der „die Grenzen des expressis verbis Aussagbaren“ (213) unbewusste Gefühlsdynamiken mindestens erfahrbar werden können.
Beispielsweise werden durch die „Ent‑deckung“ betäubter und betäubender Orte die hinter der topologischen Szenerie liegenden Widersprüchlichkeiten deutlich: Etwa in einem Zoo, in dem wir genau dort Entspannung, Naturnähe, Bildung oder Sensationen suchen, wo Mitgeschöpfe – ihrer Natur beraubt – gefangen gehalten und zur Schau gestellt werden. Wenn viele Zoos in der heutigen Zeit sich auch renaturieren oder Artenschutzprogramme, Forschung und Bildungsaufgaben stärker in den Fokus nehmen: Sie bleiben (wie andere „Hafträume“) einer subkutan spürbaren und nicht auflösbaren Spannung verhaftet, und können sich allenfalls als Symbol einer Heilung inszenieren, welches „das strukturell zutiefst gestörte Verhältnis der Menschen zum Tier“ und zur Natur selbst nicht nur nicht retten kann, sondern auch systemisch aufrecht erhält.
Hasses kulturphänomenologische Exkurse streifen dabei mehrere Ebenen. Sie verweisen auf die direkten dialogischen Verhältnisse von persönlichem Befinden und Milieu, und sie können zugleich als Metaphern psychischer individueller sowie gesellschaftlicher Zustände wie Trauma, Zwang (betäubte Orte: Brachen, Leerstände, Hafträume…) gelesen werden, wie Sucht in ihrer extatischen wie selbstanästhesierenden Form (betäubende Orte: Hobbykeller, Messie-Wohnung, Jahrmärkte, Kaufhäuser, Urlaubswelten, …) oder als Metaphern für psychische Bereiche wie dem Unterbewusstsein (Archive). Das macht das Buch so vielschichtig wie bereichernd.
Ein Bezug zur phänomenologischen Dimension der Aufstellungsarbeit ist im Grunde jederzeit herstellbar. Wenn ich durch den Raum einer Aufstellung gehe und vermittels meiner leiblichen Empfindung in Resonanz gehe, erlebe ich das so, wie Hasse das Erleben einer Atmosphäre beschreibt, hier einer Brache: „In den Bann einer Atmosphäre gerät man im Medium leiblichen Spürens, in aller Regel aber nicht als Resultat einer rationalen Entscheidung und Handlung. In einem atmosphärischen Milieu befindet man sich nicht wie ein Körper im Raum neben anderen Körpern; eher ist man mitihm, wie man in der Sonne, im Regen oder in der Dunkelheit ist. Solche Umgebungen sind deshalb auch nicht ‚ding‘-fest zu machen; […] Man spürt sie als etwas ‚am eigenen Leib, aber nicht als etwas vom eigenen Leib‘ (S.54). Dies abschließend als Leseeindruck von Hasses Sprache. Mir kommt dieser sensitiv mitschwingende Stil, der poetisch wie analytisch ist, sehr entgegen. In Kombination mit dem weit ausholenden Denken, das auf den illustresten Umwegen immer wieder an seinen Gegenstand anzuknüpfen vermag, scheint es mir das zu sein, was Herrmann Schmitz die „Eichung der Worte an den Phänomenen“ nennt (Schmitz, 1977, S.2).
Literatur:
Schmitz, H. (1977): Mein System der Philosophie. Absicht – Methode – Grundgedanke. In: Information Philosophie. Lörrach: Claudia Moser Verlag.