30.10.2023 Buchbesprechung von S O N J A N E U H A U S
- Malte Nelles, Gottes Umzug ins Ich. Eine Tiefenpsychologie des modernen Menschen, München, Europa Verlag, ISBN 978-3-95890-566-5
Dies ist das Erstlingswerk eines langjährigen Aufstellers, aber es hat nicht die Methode der Aufstellungsarbeit im Fokus. Malte Nelles wählt stattdessen die Perspektive der Tiefenpsychologie (in der Tradition des jungianischen Psychoanalytikers Wolfgang Giegerich) für die von ihm vorgenommene Zeitgeistdiagnose und Entwicklung einer neuen Neurosentheorie.
Und ich halte es gerade deshalb auch für ein Buch für alle Praktizierenden der Aufstellungsarbeit, insbesondere für diejenigen, die die Methode in einem therapeutischen Kontext anwenden. Denn worum geht es bei der Aufstellungsarbeit? Doch vor allem anderen um die Psychologie und das Bewusstsein der Menschen selbst, das sich unter anderem in Phänomenen wie Verstrickungen, Beziehungsproblemen oder persönlichen „Blockaden“ äußert (Nelles subsumiert vieles hiervon unter dem traditionsreichen Begriff der „Neurose“) und hierzu bietet das Buch nach meiner Leseerfahrung viele, grundsätzlich erhellende und erweiternde Perspektiven.
Nelles folgt in dem Buch einer Sichtweise, die zwar in der Tiefenpsychologie eine lange Tradition hat, z.B. in Gestalt von Horst-Eberhard Richters „Gotteskomplex“, auch Freud sprach bereits vom modernen Menschen als „Prothesengott“, aber in der konkreten psychotherapeutischen Praxis immer wieder in Vergessenheit geriet. In Anlehnung an Yuval Hararis Zukunftsprognose des „Homo Deus“ sieht der Autor die Zeit reif für eine aktuelle psychologische Gottesdiagnose. Und gerade für die Aufstellungsarbeit zeigt sich das Neue dieser Sichtweise insbesondere im Kontrast zur Theorie des klassischen Familienstellens mit seinem ausschließlichen Bezug auf die Familien- und Beziehungsgeschichte der Klienten, denn Nelles „betrachtet den Menschen in der Praxis nicht nur als Kind seiner Eltern, sondern ebenso als Kind seiner Zeit, Geschichte und Kultur“ (Zitat aus dem Klappentext).
Malte Nelles entwickelt auf den 296 Seiten eine neue Betrachtungsweise der psychischen Leiden unserer modernen Zeit: Er entwirft, inspiriert von der psychologischen Theorie Giegerichs (der seinerseits stark von Hegels Philosophie des Geistes geprägt ist) ein psychologisches Verständnis des herrschenden Zeitgeistes. Vom „Geist“ spricht der Autor wie von der „Natur“: Er meint hiermit die allgemeine, nur vom Menschen in dieser Form entwickelte Sphäre der Kultur, Sprache und Logik gegenüber der Sphäre der Natur, die das biologische Leben beschreibt. Sein Vorgehen hierbei ist ein geschichtliches: Er nimmt den Leser mit auf die Reise der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des modernen westlichen Geistes, als dessen Nachkommen wir heute denken, fühlen und handeln, dessen Psychologie wir somit in uns tragen.
Bereits die Grundidee, den modernen Menschen als „Kind des jüdisch-christlichen Gottes“ zu verstehen, dürfte für viele zeitgenössische Menschen eine nicht geringe Provokation darstellen. Sind wir denn nicht aufgeklärt, in weiten Teilen atheistisch und entscheiden uns – wenn überhaupt – selber, selbstbestimmt, dafür, an welchen Gott wir glauben? Viele Heutige empfinden sich zwar als „spirituell“, praktizieren Yoga, Meditation und interessieren sich für das Göttliche, aber dies erfolgt aus autonomer Entscheidung (nach einer Entscheidung des psychologischen „Ich“) und eben nicht aus einer geisteshistorischen Wirklichkeit heraus, in der Gott per se, absolut und vor allen anderen Lebensphänomenen gesetzt ist. Aber kann man nach der Aufklärung und dem Siegeszug der modernen Naturwissenschaften ernsthaft ausgerechnet vom überwunden geglaubten monotheistischen Gott als wesentlicher Quelle unseres modernen Bewusstseins sprechen? Malte Nelles zeigt, man kann und man muss dies sogar, wenn man sich dem Seelenproblem des modernen Menschen ernsthaft zuwendet.
Aber nun der Reihe nach: Der Prolog „Ein Junge, der Gott suchte“ startet mit der Passage einer lebensprägenden Krise in der Jugend des Autors. Das, was ihm hierbei begegnete, konnte er sich letztlich nicht mit den üblichen Perspektiven der Psychotherapie auf die Herkunfts- und Lebensgeschichte erklären, sondern hatte in der Tiefe eine andere Botschaft für ihn. Der Suche nach dieser ist er in den darauffolgenden Lebensjahrzehnten gefolgt und sein vorläufiges Ergebnis findet sich in diesem Buch.
In der Einleitung „Wo Gott war, werde Ich“ zeigt er, dass der Mensch existenziell seit der Erhebung aus dem Tier, das er war (und nach wie vor ist) in einen ihn stets vorausgegangen kulturellen und historischen Geist eingebunden ist. Diese Einbindung hat nach der historischen Lesart des Autors mit der Neuzeit einen unwiderruflichen Bruch erfahren, der unser Sein in der Welt neu markiert. Stellt sich die hierauf aufbauende Epoche der Moderne vordergründig als die Rettung vom Joch der Fremdbestimmung und der Erlösung der Leiden durch körperliche Krankheiten dar, begegnet der Autor als Psychotherapeut einem großen Rätsel, auf das sein Buch einen Antwortversuch darstellt: Warum steigt mit dem vermeintlichen Eintritt ins Paradies der heutigen Selbstbestimmung, der Errungenschaften des medizinischen und des sozialen Fortschritts (wie Statistiken und die explodierenden Praxen von Psychotherapeuten in allen modernen Gesellschaften zeigen) das Seelenleid von uns vermeintlich befreiten Menschen in immer schlimmeren Ausmaß?
Die These des Autors hierzu lautet, dass wir mit der vordergründigen Befreiung von Gott, der Kirche und der Tradition einen neuen seelischen Mittelpunkt entwickelt haben, von wo aus die wesentlichen Dinge unseres Lebens nun entschieden werden: unser eigenes Ich. Gott, als die Kraft, die über unser Schicksal entscheidet, ist demnach nicht „tot“, sondern ist umgezogen ins Ich des modernen Menschen, der an dieser Selbstkonzeption scheitert. Der moderne Herr über das Leben, als der wir unser Leben angehen, ist depressiv, neurotisch und steht kurz vorm Burnout.
Die Absolutheit, die als das Wesensmerkmal des monotheistischen Gottes schlechthin gilt, ist mit Gottes Umzug ins Ich als geisteshistorische Nebenwirkung in uns selbst eingezogen und äußert sich in den neurotischen Symptomen moderner Individuen. Anhand vieler Beispiele aus unserer Geschichte, der psychotherapeutischen Praxis des Autors sowie unserem unmittelbaren Alltag zeigt Malte Nelles auf, wie gottgleich wir in unserem modernen Bewusstsein geworden sind und wie sehr wir in dieser Selbstkonzeption gefangen sind.
Viele Sätze treffen mich als Leserin dabei selbst tief ins Mark wie etwa die folgenden beiden. „Das rastlose Grundgefühl des modernen Ich offenbart sich in unseren Alltagsphänomenen: dem Tinnitus im Ohr, wenn man kurz still wird; dem zwanghaften Griff nach dem Handy, auch wenn man es erst vor zwanzig Sekunden in der Hand hatte; […] Anstelle äußerer Zwänge werden wir von einem inneren Druck durch ein Leben gehetzt, das uns stets vorauseilt und seine Regeln fortwährend ändert.“ (S. 25 Zeile 17 bis 28).
Mit dem Sprung in die Moderne hat sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der westlichen Welt eine neue Kategorie psychischer Symptomatik entwickelt, die ihrerseits erst die Entwicklung der Institution Psychotherapie möglich machte: Die Neurose begegnet uns als geisteshistorisches Phänomen im Alltag nicht nur in psychischen Symptomen wie Zwängen, Depressionen oder Ängsten, sondern auch in harmlos erscheinenden Leitmotiven wie dem Werbespruch „Werde, wer du sein willst“! Was als vermeintliche Freiheit daherkommt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als fortwährender Druck der Selbstoptimierung.
Das Kapitel „Psychologie und Psychotherapie zwischen Natur und Geist“ lässt mich als Leserin tief in die Geschichte der Psychologie eintauchen und beschert mir vielfältige Einblicke zu deren Initiatoren Sigmund Freud und Carl Gustav Jung. Darüber hinaus zeigt es die unüberbrückbare Spaltung zwischen dem Wunsch der Tiefenpsychologen als Wissenschaft zu gelten (durchaus im Sinne naturwissenschaftlicher Standards) und deren sich jeglichem streng wissenschaftlichen Anspruch entziehenden Forschungsobjekten der Seele und des Geistes.
Die beiden folgenden Kapitel „Der moderne Mensch, ein Kind Gottes“ und „Gottes Umzug in Mensch und Welt oder die Erbauung des modernen Menschen“ zeichnen als geisteshistorische Erzählung die Veränderung unserer Kultur nach, die durch den Siegeszug des Christentums das Abendland begründet haben. Der moderne Mensch – so Nelles´ These – hat sich von seinen christlichen Wurzeln nicht befreit, sondern ist die vorzeitige Vollendung jenes Menschen, dem der Gott des Alten Testaments auftrug, „sich die Erde untertan zu machen“.
Nelles zeigt hierbei, wie die vollzogene Überwindung der Personifizierung Gottes als Gottvater mit weißen Rauschebart im Volksglauben ablenkt von der phänomenalen Wirklichkeit des heutigen Lebens, in der wir weiterhin – gänzlich christlich – gegen den Tod und das Böse kämpfen und im missionarischen Eifer die noch Ungläubigen von unserem Glauben (etwa an den Kapitalismus, unsere Werte und die „liberale Weltordnung“) zu überzeugen streben. Hierbei gelingt es ihm, immer wieder aufzuzeigen, welch vielfältige Auswirkungen der Siegeszug des Monotheismus noch in der heutigen Zeit hat, aus dem wir uns nicht mittels unseres vorgeblich freien Willens innerlich „befreien“ können.
Es bereichert und entlastet mich bei der Lektüre in einem persönlichen Sinne in meinem Leben zu erkennen, wie kulturell vermitteltes Bewusstsein entsteht, wirkt und sich immer weiterentwickelt und wie nachhaltig unsere kollektive Geschichte in jedem von uns persönlich wirkt.
In den nächsten zwei Kapiteln „Die Neurose des Gottmenschen“ sowie „Vom Himmel auf die Erde – die Neurose in der Psychotherapie“ wird nach dem geisteshistorischen Abriss nun ganz der Sprung in die psychotherapeutische Praxis vollzogen. Hier zeigt sich die intuitive Art des Denkens in diesem Buch, da wir nun vom mosaischen „spirituellen Entwicklungsprojekt, das in der Wüste Ägyptens seinen Ursprung hatte“ (S. 77) beim Neurotiker unserer postmodernen Zeit landen. Die Vielzahl an Beispielen aus Malte Nelles psychotherapeutischer Praxis enthält einen immensen inhaltlichen Reichtum und die Herleitung seelischer Symptome moderner Individuen aus unserer Kulturgeschichte fällt ungemein fruchtbar und inspirierend aus.
Malte Nelles gelingt dabei der schwierige Spagat, den Finger in die Wunden unserer Zeit zu legen und einer gleichzeitig versöhnenden Haltung gegenüber unserer Kultur. Unter dem therapeutischen Stichwort der „Heilung durch die Erde“ findet schließlich auch der Begründer des Familienstellens an wesentlicher Stelle seinen Platz in Nelles‘ Denken, indem er Bert Hellingers tiefe Würdigung des normalen Lebens und der Familie an entscheidender Stelle zitiert (Seite 202 und 203).
Im letzten Kapitel „Gottes Auszug aus dem Ich – die Psychotherapie des Gottmenschen“ entwickelt man das Gefühl, dass der Autor nun gänzlich frei sein persönliches Resümee zieht. Er wagt sich dabei hinaus bis zur Entwicklung eines psychologischen Gottesbegriffes. Laut Nelles lebt „Gott“ in der alltäglichen Unverfügbarkeit des ganz normalen Lebens, in jedem Phänomen in dem der Ich-Wille des modernen Menschen seine Grenzen erfährt.
Auch die Liebe sei somit göttlichen Ursprungs, gehört sie doch wie kaum ein anderes Phänomen zu jenen Seelenkräften, die wir ersehnen und die uns gerade deshalb unverfügbar bleiben und damit „göttlichen Ursprungs“ sind.
Alleine diese letzten fast 60 Seiten sind eine eigene Buchbeschreibung wert. Überhaupt ist dieses Buch so dicht mit psychologischem und philosophischem Wissen gefüllt, dass man sich als Leser Zeit und Muße nehmen sollte, um all das, was Malte Nelles mit Herzblut in dieses Buch gesteckt hat, in sich aufnehmen zu können.
Der Epilog „Ein neurotischer Mann“ beendet das Buch, wie es begonnen hat, mit einer persönlichen Episode aus dem Leben des Autors. Hier nimmt er mich als Leser noch einmal mit in sein Leben, welches, wie bei fast allen modernen Menschen, von seelischen Leiden und dem Konflikt zwischen inneren Überzeugungen und äußerer Welt geprägt ist.
Mein Fazit: Die Lektüre hat mich reich beschenkt und die vielen persönlichen Inneneinsichten währenddessen werden weiter in mir wirken. Ich kann dieses Buch jedem ans Herz legen, der bereit ist, über den eigenen Tellerrand und den der konventionellen Psychologie hinaus blicken zu wollen. Wenn man zudem noch mit Menschen arbeitet, so sollte man nicht darauf verzichten, dieses Buch gelesen zu haben.
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