03.05.2022 REZENSION von  K E R S T I N   K U S C H I K  

  • B.Jaquet, C.Ziepert, M.Ohler (Hrsg.): Vom Träumen und Aufwachen - Drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall.  Heidelberg 2022, Carl Auer Verlag. ISBN 978-3-8497-0361-5, 359 Seiten.

Wie steht es um die deutsch-deutsche Geschichte ab ´89? Welche Geschichten werden dazu vom wem erzählt, was wurde erlebt und was wird gehofft? Im November 2019 widmete sich diesen Fragen eine Tagung in Naumburg, genauer im Dom der Stadt an der Saale in Sachsen-Anhalt und gab viel Raum für Dialog, Workshops, Aufstellungen, Vorträge … Kunstprojekte. „Die Freiheit, die ich meine … Zwischen Identität und Wandel – auf Spurensuche“, so ihr Titel.

Nun liegt das Buch dazu vor, so vielseitig und stilistisch bunt, so persönlich und reflektierend wie es auf der Tagung zugegangen ist. Es war eine Atmosphäre des einander Mitteilens, so beschreiben einige Beteiligte die Tagung und dies vermittelt auch das Buch. Die Beteiligten der Workshops, Vorträge und Gesprächsrunden haben Nachbetrachtungen geschrieben, ihre Veranstaltung dokumentiert oder sie lassen die Leser:innen an ihren Projekten teilhaben., etwa eine 100 tägige Reise ohne Geld durch Deutschland, ein nonverbales Spiel zum Thema oder eine gelungene Form des Ost-West-Dialogs „Ostzigartig“…

Ich war leider nicht auf der Tagung und bin froh, nun im Nachgang über das Buch und auch über das kurze, filmische Resüme auf der Seite der DGfS einen Eindruck davon zu bekommen.

Das Buch bietet 25 Beiträge von verschiedenen Autorinnen und Autoren, die ihr Erleben zum Mauerfall und der folgenden Jahrzehnte mitteilen verbunden mit Fragen, wie die Deutsch-Deutsche Geschichte gut weitergehen kann, was überhaupt „gut“ ist… was es für ein Zusammenwachsen braucht oder was gefehlt hat... Denn es wird auch mehrfach klar: Es ist viel verloren worden auf dem Weg zur „Einheit“, die im Grunde aus der Perspektive vieler ehemaliger DDR-Bürgerinnen und -Bürger eher ein Anschluss oder Beitritt war – oder auch eine Übernahme. Heutige Phänomene des Misstrauens, der Unsicherheit, der Angst – sowohl im Osten wie im Westen – mit den Reaktionen auf diese Gefühlslagen wie unter anderem Desinteresse, Verschwörungserzählungen oder Gewalt gründen im mangelnden Verständnis voneinander, in der mangelnden Achtung voreinander und der übersprungenen Zeit, die ein Prozess der Vereinigung gebraucht hätte, der aber von entscheidenden Interessensgruppen und Machtorganen aus den unterschiedlichsten Gründen so nicht gewünscht war.

In drei Kapitel sind die Beiträge des Buches gefasst: „Während der Tagung“, „Nach der Tagung“ und „Zur Tagung“. Den größten Teil macht das erste Kapitel „Während der Tagung“ aus. Ich versuche für diese Rezension, statt dieser zeitlichen Aufteilung der Buchabschnitte zu folgen, eher eine inhaltliche Orientierung zu geben. Ich verzichte auf eine kritische Einordnung und beende die Buchbesprechung mit meinem persönliches Leseerlebnis.

Es gibt zunächst Beiträge mit thematischen Schwerpunkten, die unterschiedlich deutlich auf das Tagungsthema Bezug nehmen. Beispiele sind hier die Beiträge von Stephan Marks zur Scham, Überlegungen zu aktuellen Parametern der Demokratiebildung aus einer ostsozialisierten und neoliberalismuskritischen Perspektive von Uwe Langbein oder über Populismus von Albrecht Mahr. Jürgen Reifarth nimmt seine Biografie zum Anlass, über die drei Ebenen Alltag, Macht und Beziehung Sprache kritisch zu reflektieren. Er legt dar, wie und wodurch sich darin politische Haltungen vor und nach „der Wende“ ausdrücken und rät dazu, die Aufmerksamkeit auf den öffentlichen und machtorientierten Sprachgebrauch wachzuhalten, um „erwachsen“ mit „herzlicher Klarheit“ unsere Beziehungen im Raum des Sowohl-als-Auch im Blick zu behalten. 

Auch um Sprache geht es (vordergründig) bei Caroline Winning. Sie schreibt über die Haltung und Methode der Gewaltfreien Kommunikation und trägt mit Barbara Inneckens, Manfred Zieperts und Anett Renners Aufsätzen dazu bei, Methoden vorzustellen, mit denen sie als Coaches und Therapeut:innen  Menschen durch die Spannungsfelder der persönlichen Entwicklung begleiten.

Wie sich „Ost- und West-Sozialisationen“ (nach Katja Wrobel, s.u.) in politischen Haltungen zeigen, bekommen die Leser:innen in vielen persönlichen Geschichten quer durch die Beiträge zu lesen. Es wird gezeigt, wie in diese Biografien Schuld und Scham hineinspielen und dadurch Kraft rauben oder Visionen eng halten sowie andererseits, wie zwiespältige Gefühle in Aufbruchsaktionen münden und den Mut befeuern, das bisher Ungedachte zu fassen und umzusetzen. Zu nennen wären hier die Beiträge von Valeska Riedel, Heiko Kleve, Katja Wrobel, das im Nachgang zur Tagung unter Pandemie-Bedingungen entstandene „Aufsatz-Gespräch“ (K.K) von Mechthild Reinhard, Peter Pristas, Albrecht Reinhard und Hanna Wredenhagen oder der Beitrag von Cornelia Stieler.

Persönliche Berichte über die Wirkung der Tagung auf die Autor:innen gibt es in vielen Beiträgen, einen besonderen Fokus haben sie bei Annegret Chucholowski, Christopher Bodirsky oder Volker Fleïng.

Schließlich sind die Workshop-Berichte oder der über das Gesprächsforum zu Anfang der Tagung zu nennen: Christa Renolder interviewt Ruth Sander zu ihrer Erfahrung, als Österreicherin auf das Tagungsthema zu schauen und dazu, wie deren Aufstellungsvorgehen „Politik im Raum“ bei den Tagungsteilnehmer:innen ankam. Einen ausführlichen Bericht zu ebendieser Aufstellung gibt es hier im Forum der PdS. Rica Salm-Rechberg beschreibt eine Aufstellung mit dem Anliegen: „Was fehlt Deutschland (jetzt), um vereint und befriedet weitergehen zu können?“, und Gianna Hennig und Heike Beck haben ein Projekt zur Tagung beigetragen, das sich künstlerisch mit dem Tagungsthema auseinandersetzt, es in Szene setzt und auch poetische Reaktionen zusammenträgt. Drei Haikus sind so entstanden, die im Buch zu lesen sind. Anna Hoff und Ansgar Röhrbein moderierten das Gesprächsforum zu Beginn der Tagung und geben eine Zusammenfassung.

Der systemische Geist weht angenehm durch das Buch. Damit meine ich die Haltungen der Autor:innen, unsere komplexe Lebenswelt im Blick zu behalten, wenn mit Differenziertheit, Mehrperspektivität, (Selbst-)Reflexionstiefe und anderem, beides, individuelles Erleben und soziale Gesamtheit, betrachtet werden. Das könnte selbstverständlich sein in einem Buch, das von Menschen geschrieben wurde, deren Beruf(ung) es ist, mit anderen beraterisch/ therapeutisch im Kontakt zu sein. Allerdings ist meine Erfahrung beim Thema deutsch-deutsche Geschichte bisher anders gewesen, und zwar quer durch die Berufsgruppen und andere gesellschaftliche Bereiche. Ich kenne bisher eher Ressentiments, Zögerlichkeiten und Selbstzurücknahmen aufgrund von Scham, Unsicherheit oder Überlegenheitsgefühlen. Wobei ich mich da nicht ausnehme. Auch mit – oder gerade durch (?) – Familie in Ost und West, sozialen und emotionalen Schnittmengen in Kultur und vielen persönlichen Begegnungen und trotz guten Willens gab es eben auf beiden Seiten blinde Flecke und dadurch blinde Handlungen.

Die Vielzahl der Beiträge und deren stilistisch/sprachliche Bandbreite machen das Buch zu einer Art Lesebuch. Was ja bei Sammelbänden wunderbar funktioniert ist, sich für passende Lese-Impulse mithilfe der eigenen Inspiration durch das Inhaltsverzeichnis führen zu lassen. So habe ich mich schließlich kreuz und quer durch das komplette Buch gelesen.

Meine persönlichen Interessensbereiche waren erstens die Perspektiven der „jüngeren“ Autorinnen, die nach `89 geboren wurden oder damals noch Kinder waren. Wie Andreas Reinhards 100 Tage Reise, die rasch und in saloppem Ton in einer Art Tagebuch ins Mobiltelefon getippt worden sind und keine Unterschiede präsentiert haben zwischen Ost- und West-Begegnungen, stattdessen eher „innerdeutsche Heimat(en)". Oder auch Katja Wrobels Beitrag, die diversity-sensitiv arbeitet und sich immer wieder fragt, wie sie vor der eigenen Privilegienmatrix und ihrer Ostsozialisation in Verbindung zu sich und anderen bleiben kann (seien es Personen im Rahmen ihrer Arbeit oder Begegnungen mit Teilnehmer:innen der Tagung), und dafür ihre inneren Auslotungsprozesse im Text zur Verfügung stellt. Etwa wie sie damit umgegangen ist, wenn Personen ihre privilegierten Positionen ausblenden oder relativieren, wann sie und weshalb sie wahrgenommene Unterschiede nicht benennt, oder wie sie sich auspegelt zwischen Kontakt und Nicht-Kontakt. Auch Maik Priebes eher prosaischer Text war mir eine willkommene Bereicherung. Priebe, ein Theaterregisseur, hat das „schmerzhafte und doch heilsame Sich-Erinnern an das DRÜBEN“ (M.P.) sinnlich auf sechs Seiten inszeniert, so, dass ich als Wessi, die nur ein paar Kindheitswochen im Jahr auf Urlaub im Leipziger Raum verbracht hatte, mehr emotional als vom Verstand her darin mitschwingen konnte, was es heißen muss, RÜBERZUMACHEN, ohne sich zu bewegen. (Originalzitat: Bevor wir RÜBERMACHTEN ohne uns zu bewegen.)

Zweitens fand ich die Beiträge hilfreich, die mir spürbar machten, wie die für die Revolution nötige positive Energie der DDR-Bürger:innen mit der Einheit abbrach, ja nichts mehr wert war und bei vielen Trauer und Wut entstanden sind, statt verlängerter Aufbruchsgefühle, die in einer gemeinsamen Suche hätten münden können, das Beste aus beiden Staaten zusammenzutun. Als Beispiel hierfür möchte ich Irene Misselwitz nennen, deren Beitragstitel für den Buchtitel übernommen wurde.

Allerdings ist der Band nicht bei Frustration und Hoffnungslosigkeit stehen geblieben, es ging ja darum, Akzente für inspirierende, systemische Beteiligung an einer gemeinsamen Wirkung für die Zukunft aufzuspüren und auch zu setzen – so habe ich Christine Ziepert verstanden. Die Frage „Was stattdessen?“ könnte ein solcher orientierungsschaffender Impuls für ebendiese nötigen Bewegungen ins Gemeinsame sein, schlägt Beate Jaquet vor. Beide haben als Herausgeberin und Tagungsorganisatorin wesentlich zu diesem Buch beigetragen. So wie ihr Herausgeber:innen-Kollege Matthias Ohler, der in seinem Nachwort zwei weitere Beobachtungen von der Tagung als bekannte, fruchtbare Ressourcen des Miteinanders zusammenfasst: Die Atmosphäre des Erzählens und Zuhörens, der Verzicht darauf, Recht zu haben.


Kommentar