21.06. 2018 REZENSION von O L I V I E R   N E T T E R:

  • Thomas Gehrmann: Über Psychotherapie hinaus. Die Entwicklung des Familienstellens nach Bert Hellinger. Hellinger Publications; 1., Auflage (31. Juli 2009), 978-3000282454
  • Ders. In eine andere Weite. Zur Philosophie und Theologie von Bert Hellinger. 

Thomas Gehrmann hat nach seinem Buch über Bert Hellinger von 2009 mit dem Titel „Über Psychotherapie hinaus. Die Entwicklung des Familienstellen nach Bert Hellinger“ nun 2018 sein zweites Buch herausgegeben. Diesmal gemeinsam mit einer Co-Autorin, Ursula Steinbach. Es heißt: „In eine andere Weite. Zur Philosophie und Theologie von Bert Hellinger“. Standen in seinem ersten Buch vor allem die Entwicklung der Aufstellungsarbeit von den ersten Anfängen bis zur Entwicklung der Bewegung des Geistes und die damit verbunden Konflikte und Polarisierungen innerhalb der systemischen Aufsteller-Gemeinschaft im Zentrum, so ist es diesmal die aktuelle Philosophie und Theologie von Bert Hellinger.

Wie das erste Buch von Gehrmann, so ist auch sein zweites extrem gut lesbar und besticht durch die offene Haltung der Autoren. Es macht einfach Vergnügen seine Bücher zu lesen, denn er vermittelt seine ganz persönlichen Einsichten in das Leben und Wirken von Hellinger mit Intelligenz, Schlagfertigkeit und einer großen Portion Humor und Selbstironie. Das ist im Universum der Aufstellungsliteratur eine bemerkenswerte Ausnahme. Dass vor allem im ersten Buch des Öfteren auch andere seine mit Pfiffigkeit und Humor vorgetragene Kritik auszuhalten haben, nimmt vielen der damals vollzogenen Abgrenzungen und ausgetragenen Kämpfe auf überraschende Weise ein wenig die fachliche Grundlage und Motivation, und leitet über zu einer Art Sittengemälde der systemischen Community mit ihren unterschiedlichen beruflichen Loyalitäten und Empfindlichkeiten.

In beiden Büchern gelingt es Gehrmann aber vor allem, zuletzt eben gemeinsam mit Ursula Steinbach, die wichtigen Grundbegriffe und Grundthemen von Bert Hellingers Aufstellungsarbeit verständlich darzustellen und meist in klaren Worten zu erläutern. Mit voller Berechtigung und wieder durchaus mit treffendem Humor, schreibt Gehrmann selbst, noch im zweiten, sehr viel ernsteren Buch, er habe immer das Denken Hellingers ins Deutsche übersetzten wollen. Klassisches Familienstellen, Ordnungen der Liebe, phänomenologische Haltung, das Gewissen, Systemik, Intuition und andere zentrale Begriffe  werden in beiden Büchern prägnant erläutert.

Das zweite Buch widmet sich neben einer Rekapitulation des Entwicklungsweges von Hellinger und seiner Praxis aber vor allem der impliziten Theologie innerhalb seines Denkens. Spätestens hier wird die Lektüre für alle die interessant, die sich die letzten Jahre aus dem direkten Einflussbereich Hellingers entfernt haben und verständlicher Weise den Anschluss verloren haben. Seine neuen, oft kryptisch wirkenden Konzepte, die einen stark christlich theologischen Anstrich haben und sich nicht leicht erschließen, werden durch die „Übersetzung“ und Erläuterungen von Gehrmann und Steinbach am Ende für ein entwickeltes und gleichzeitig unbefangenes Verständnis der Aufstellungsarbeit durchaus anschlussfähig. Das ist überraschend.

Man möchte in mancher Hinsicht den persönlichen Ansichten der Autoren, die sich der Arbeit Hellingers seit vielen Jahren verpflichtet fühlen, nicht immer folgen.  Die Lektüre vor allem des ersten Buches ist aber auf Grund des unprätentiösen, lockeren und streckenweise souveränen Stils sehr angenehm, und zweitens durchaus lehrreich. Das zweite, aktuelle Buch dokumentiert in manchen Passagen wohl durchaus auch absichtlich die anfängliche Ratlosigkeit der Autoren angesichts der Terminologie Hellingers und ihren mühevollen, teilweise holprigen Weg zu einem  mehr oder weniger überzeugendem eigenen Verständnis. Ihre persönlichen Ansichten tragen beide dabei so vor, dass die persönlichen Perspektiven, die zu ihren Ansichten geführt haben, mit im Bild sind. Auch wenn das zweite Buch nicht ganz so souverän und auf den Punkt ist, ist es insgesamt doch eine lohnende Lektüre und vor allem eines: ehrlich.


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