Mein Vorschlag zur Diskussion!

Qualität in der Aufstellungsarbeit

  • Teil 1: Die Einbettung einer Aufstellung
  • Teil 2: Über die Sprache
  • Teil 3: Über die Liebe
  • Teil 4: Über die Intuition und die Befolgung von Regeln

von Christopher Bodirsky

 

Teil 1: Die Einbettung einer Aufstellung

 

Einleitung

Das Thema Qualität ist mir ein großes Anliegen. Daher möchte ich in einer kleinen Serie Ideen und Arbeitsweisen aus meiner Praxis vorstellen, von denen ich überzeugt bin, dass sie für die Qualität der Aufstellungsarbeit wichtig sind.

Das sind natürlich alles meine individuellen Wahrnehmungen und ich kann mir gut vorstellen, dass es dazu naturgemäß auch andere Ansichten gibt. Daher möchte ich meine Ideen mit Beispielen aus der Praxis untermauern, und freue mich aber über einen lebhaften Austausch und stehe auch gerne für Diskussionen zur Verfügung.

Die Einbettung einer Aufstellung

Ein erster, für mich, absolut wichtiger Punkt ist die Einbettung einer Aufstellung in einen therapeutischen oder beratenden Prozess. Das bedeutet, dass ich immer ein separates Vorgespräch führe, und immer ein Nachgespräch eindringlich empfehle.

Das Vorgespräch

Separate Vorgespräche zu Aufstellungen habe ich gleich zu Beginn meiner Aufstellungsarbeit eingeführt. Mir war es wichtig, das Anliegen in einem geschützten Bereich vorab zu klären – denn in meinen Augen ist nicht für jedes Anliegen eine Aufstellung das Mittel der ersten Wahl, getreu dem Spruch: „Wer einen Hammer in der Hand hat, für den sieht jedes Problem wie ein Nagel aus“.

Inzwischen erstelle ich in diesen Vorgesprächen immer auch ein Genogramm. Damit erhalte ich sehr schnell einen Überblick, gerade bei Klienten, die das Gespräch einleiten mit einem Satz wie: „Ich weiß gar nicht so recht, wo ich anfangen soll...“. Das Genogramm ist für mich ein gutes Werkzeug geworden, um Ideen generieren zu können, wenn ich die Hypothese habe, dass in einer Aufstellung noch jemand oder etwas fehlt. Dadurch kann ich den Klienten Angebote machen, an die sie im Moment nicht denken – Ausgeschlossene oder früh Verstorbene zum Beispiel. Weiterhin erlebe ich, dass durch das Vorgespräch oft schon ein Prozess startet, so dass bis zum Zeitpunkt der Aufstellung sich schon etwas entwickelt hat.

Ein Praxisbeispiel, wie wichtig für mich die Klärung des Anliegens im Vorfeld ist:

Eine junge Klientin kommt ins Vorgespräch und ihr Anliegen war: „Ich möchte in einer Aufstellung die Bestätigung haben, dass mein Vater mich missbraucht hat!" Auf meine Frage nach dem Hintergrund dieses Anliegens berichtete sie: "Ich war in einer psychosomatischen Klinik. Dort sollten wir auch einmal Bilder malen und die Psychotherapeutin blickte mir über die Schulter und sagte: 'Das ist ein Penis, sie sind sicher missbraucht worden!' Da dazu nur mein Vater in Frage kam, habe ich zuhause davon berichtet und ihn des Missbrauchs beschuldigt. Meine Mutter ließ sich scheiden, mein Vater und mein Bruder reden seitdem kein Wort mehr mit mir – und jetzt will ich die Bestätigung, dass ich Recht habe..."

Ich konnte sie davon überzeugen, dass das kein Anliegen sei, das in einer Aufstellung geklärt werden könne – und sie nahm davon Abstand.

In einer Aufstellungsgruppe jemandem zu sagen, dass sein Anliegen „nicht gut genug ist / nicht richtig ist“ - so wird das von Klienten oft interpretiert – empfinde ich als nicht wertschätzend und auch nicht hilfreich. Die Erfahrung zeigt, dass Klienten, die so etwas erleben, oft von Aufstellungen nachhaltig „bedient“ sind und entsprechend negativ auch im Freundeskreis darüber berichten. Aufstellende bekommen das in der Regel nicht mit, weil diese Personen ja nicht mehr kommen. Meine Frau arbeitet seit 30 Jahren als Homöopathin und empfiehlt ab und an Patienten eine Aufstellung – und da bekommt sie nicht selten derartige Geschichten zu hören.

Für eine ethisch verantwortungsvolle, klientenzentrierte und dadurch qualitative Arbeit ist es für mich elementar, das Anliegen in einem geschützten Rahmen vorab zu besprechen.

Das Nachgespräch

Am Anfang meiner Aufstellungsarbeit hatte ich die Sorge, dass die Klienten das Angebot eines Nachgespräches als Versuch werten, Nachfolgetermine zu akquirieren. Aber genau das Gegenteil war der Fall. Antworten wie: „Gott sei Dank – meine Freundin war bei einer Aufstellung und sie berichtete, dass sie sich wie 'aufgerissen' fühlte – und danach 'im Regen stehen gelassen' wurde!“, habe ich mehr als einmal gehört. Auch hier ist klar, dass diese Menschen so schnell keine Aufstellung mehr erleben wollen. Ist das sinnvoll?

Ein Nachgespräch hat darüber hinaus weitere Vorteile: Zunächst einmal achten die Klienten wesentlich stärker auf Veränderungen, denn nach 4-6 Wochen sollen sie ja berichten, was sich verändert hat.

Weiterhin kann ich ungünstige Bilder, die Klienten mitgenommen haben, berichtigen. Ein Beispiel:

Ein Klient berichtete im Nachgespräch: „Also ich war die ganze Zeit mit einer Frage beschäftigt. Die Vertretung meiner Schwester hat ja im Schlussbild immer auf den Boden geblickt und es heißt ja, dass, wer auf den Boden blickt, auf einen Toten schaut. Und ich fragte mich – auf wen schaut sie?“

Ich konnte ihn beruhigen, dass erstens der Blick auf den Boden alles mögliche bedeuten kann und eher selten bedeutet, dass man auf einen Toten blickt. Und andererseits – die Aufstellung dauerte ja schon etwas länger, die Schwester spielte nur am Anfang eine wesentliche Rolle, so dass sich die Stellvertreterin im Schlussbild vielleicht gelangweilt hat. Und da hat sie sich vielleicht – auf den Boden blickend – überlegt, was sie morgen kochen soll...

Das beruhigte ihn. Angenommen, ich hätte keine alternative Bedeutung angeboten – es hätte passieren können, dass er bei seiner Suche auch auf Ideen kommt, dass seine Schwester vielleicht ein Kind abgetrieben hätte, und die Familie mit dieser „Wahrheit“ konfrontiert.

Der entscheidende Punkt für mich ist jedoch die Möglichkeit, durch ein Nachgespräch meine Arbeit überprüfen zu können. Dies erlaubt es mir, Vorgehensweisen zu überdenken, Hinweise auf unglückliche sprachliche Formulierungen zu bekommen und somit meine Arbeit kontinuierlich zu verbessern.

Wie konnte das passieren?

Jetzt stellt sich für mich die Frage, wie die Idee entstehen konnte, Aufstellungen als Einzel-Event ohne eine Einbettung anzubieten. Meine Vermutung ist, dass viele Aufstellende der ersten Generation einfach Hellinger kopiert haben. Leider wurde dabei, nach meiner Meinung, übersehen, dass Hellinger nie als Therapeut gearbeitet hat – auch wenn einzelne Aufstellungen von ihm therapeutische Wirkungen zeigten.

In anderen Kontexten, wie z.B. Aufstellungen in Organisationen, kommt ja auch niemand auf die Idee, Aufstellungen ohne eine Einbettung in einen beratenden Kontext durchzuführen.

Verstärkt wurde es dann in meinen Augen dadurch, dass die erste Generation sehr gefragt war und daher an wechselnden Orten aufgestellt hat – und da gab und gibt es natürlich keinen Raum für Vor- oder Nachgespräche. Und so hat sich eine Praxis etabliert, die uns auch immer wieder vorgeworfen wird. Und auch der Gesetzgeber hat sich ja etwas dabei gedacht, als er in das Heilpraktikergesetz im Paragraphen 3 formulierte: „Die Erlaubnis nach § 1 (Ausübung der Heilkunde) berechtigt nicht zur Ausübung der Heilkunde im Umherziehen.“ Damit ich nicht falsch verstanden werde – mir geht es dabei nicht um Weiterbildungs-Veranstaltungen, sondern um Aufstellungs-Seminare.

Resümee

Vielleicht ist das jetzt etwas hart formuliert – aber für mich sind Aufstellungen, im sozialen und erst recht in therapeutischen Bereich, ohne eine entsprechende Einbettung ein Kunstfehler.

Wenn unsere beschlossenen Ethik-Richtlinien auch gelebt werden und nicht nur als Feigenblatt dienen sollen, wird es nach meiner Meinung Zeit, im Sinne einer qualitativen und ethischen Arbeit, Vorgehensweisen, die in der Anfangszeit durchaus sinnvoll waren, vielleicht einmal kritisch zu hinterfragen.

 

Qualität in der Aufstellungsarbeit Teil 2: Über die Sprache

Einleitung

Eines der mächtigsten Werkzeuge, über die Therapeuten und Berater verfügen, ist die Sprache. Elisabeth Wehling, eine Sprach- und Kognitionsforscherin, bringt zum Beispiel in ihrem Buch „Politisches Framing“ spannende Beispiele, wie einzelne Worte unser Denken beeinflussen können. Die Idee, dass wir rational, objektiv und bewusst denken und auf dieser Basis Entscheidungen treffen können, hat die moderne Kognitionsforschung längst zu Grabe getragen.

Das ist vielleicht für aufmerksame Beobachter nicht komplett neu, aber die Kraft, die einzelne Worte entfalten können, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Ein Beispiel

Ein für mich sehr gutes Beispiel erläutert Frau Wehling an dem Begriff „Erderwärmung“. Dieses Wort hält sie für sehr problematisch, weil es das dahinter liegende Problem verharmlost. Mit dem Begriff „Erwärmung“ verknüpfen wir typischerweise sehr positive Empfindungen: Wärme bedeutet Nähe, Zuneigung, Geborgenheit, Gemeinschaft (wir sind Rudeltiere!). Wenn man damit also die dahinter liegende drohende Katastrophe ansprechen will, werden mit „Erderwärmung“ gegenläufige – und somit verharmlosende - Assoziationen generiert. Verwendet man dagegen „Erdüberhitzung“, werden damit eher unangenehme Empfindungen verknüpft, die das dahinter liegende Problem sinnlich wesentlich nachvollziehbarer beschreiben.

Achtsamkeit in der Aufstellungsarbeit

Mit diesem Wissen im Hinterkopf ist es hilfreich, zentrale Aussagen die man trifft, zu überdenken. Für mich ist zum Beispiel die Aussage „eine Aufstellung abzubrechen“ extrem  unglücklich. Ein Projekt wird abgebrochen, Gespräche werden abgebrochen, eine Bergbesteigung wird abgebrochen – all das wird typischerweise mit "scheitern" verknüpft.

Klienten, die das erfahren, beziehen das Scheitern oft auf sich. „Ich konnte mein Anliegen nicht richtig formulieren“, oder „mein Anliegen eignet sich nicht...“, sind Aussagen, die ich in meiner Praxis immer wieder mal höre, wenn ich eine mögliche Aufstellung ins Gespräch bringe. Damit wird dann auch begründet, warum eine Aufstellung eigentlich nicht mehr in Frage kommt. Wieviel leichter klingt es, wenn man zum Beispiel formuliert: „Ich möchte die Aufstellung jetzt hier erst mal stehen lassen – und Du beobachtest bitte, was sich bereits verändert...“ 
Sehr hilfreich ist es natürlich, wenn man dabei noch einmal zusammenfassen kann, welche Hypothesen die Klienten hatten, die sich vielleicht nicht bestätigt haben, oder welche Ideen ich überprüft habe, die kein Ergebnis zeigten. Denn ich denke, niemand wird zum Beispiel seinem Arzt böse sein wenn dieser mitteilt: „Also ihre Befürchtung, dass ihr Blutdruck zu hoch ist, hat sich nicht bestätigt...“

Der "Ich-Bezug"

Sehr wichtig ist immer ein „Ich-Bezug“. Auch hier ein Beispiel aus der Praxis: In ihrer homöopathischen Praxis bot meine Frau einer Klientin an, ob es nicht sinnvoll wäre, ihr Thema mit ihrer Mutter vielleicht auch mal mit Hilfe einer Aufstellung zu bearbeiten. Die Klientin lehnte das ab, da sie ja nach einer 3-jährigen psychotherapeutischen Behandlung mit dem Satz entlassen wurde: „Ihnen kann man nicht helfen.“ Somit sei ja jede weitere Arbeit in dieser Richtung sinnlos.
Wieviel besser wäre es gewesen, wenn der Satz gelautet hätte: Ich kann ihnen nicht weiter helfen...“

Hilfreich: Relative Aussagen

Was häufig leicht gedankenverloren über die Lippen kommt – aber oft nicht hilfreich ist - sind: Absolute Aussagen.
Schon die Aussage in einer Gruppe: „Das Wetter ist schön!“, kann als eine subtile Form der Gewaltanwendung gesehen werden, da ich meine Definition, was ein schönes Wetter sei, zur Allgemeingültigkeit erkläre. „Für mich ist das ein schönes Wetter“, klingt schon anders.

Für mich ist es sehr wichtig, alles was man glaubt(!) zu sehen, mit „Einmal angenommen“ oder „Vielleicht“ zu relativieren und – idealerweise noch mit einer Begründung - als eine ehrliche(!) Frage den Klienten anzubieten. Ein kleines Beispiel: Ich finde, es macht einen Unterschied, ob man gesagt bekommt: „Es zeigt sich hier ganz klar, dass Du Schuld auf Dich geladen hast...“, oder einen Satz in der Art: „Wenn ich die Reaktionen Deiner Repräsentantin auf die getätigten Aussagen, die Positionen der Stellvertreter und die Körperhaltungen berücksichtige – kann es sein, dass Du vielleicht ein Gefühl entwickelt hast, Du hättest Schuld auf Dich geladen haben?“

Die Verdinglichung

Mit „Verdinglichung“ ist gemeint, wenn aus einer Metapher ein „Ding“, also ein realer Gegenstand wird und es damit auch eigene Eigenschaften bekommt. Sehr beliebt ist es ja zum Beispiel von „dem System“ zu sprechen, als ob ein System real existieren würde. Es ist aber nur eine Definition, eine Beschreibung für das, was wir z.B. in einer Aufstellung betrachten. Das kann zum Beispiel bei einer Symptomaufstellung der einzelne Mensch sein, aber eben auch mal die Herkunftsfamilie, oder ein Team in einer Firma. Wenn dann noch Aussagen getätigt werden wie: „Wir können hier sehen, dass Du in Deinem System gefangen bist...“ mutiert „das System“ auch noch zu einer Art Gefängniswärter und bekommt implizite Eigenschaften. Gunther Schmidt würde hier die Frage stellen: „Ist das hilfreich, ist das zieldienlich?“

Implizite Bedeutungen

Zum Abschluss noch ein Beispiel aus meiner Praxis, was ein Wort ausmachen kann.
Eine Klientin erzählt mir Ihre Familiensituation: Sie habe einen afrikanischen Mann kennen gelernt, und nun einen 3-jährigen Sohn, der leider ungewollt zur Welt gekommen wäre. Sie selbst sei auch ein ungewolltes Kind, genauso wie ihre Mutter ein ungewolltes Kind sei. Hier ziehe sich ja offensichtlich etwas durch die Generationen durch. Der Vater ihres Kindes habe auch zurück nach Afrika gemusst und daraus ergäben sich nun verschiedene Schwierigkeiten. Soweit Ihr Bericht – natürlich in Kurzform.

Ich fragte sie, wer denn entschieden habe, das Kind auszutragen als sie bemerkt habe, dass sie schwanger sei. Sie antwortete: „Das war eine gemeinsame Entscheidung“. Darauf antwortete ich: „Und ab diesem Zeitpunkt war es dann ja kein ungewolltes, sondern allenfalls ein ungeplantes Kind“.
Ich merkte, wie es in ihr zu arbeiten begann und nach einigen Minuten sagte sie langsam: „Dann bin ich ja auch kein ungewolltes Kind – und meine Mutter auch nicht!“
Ich glaube, die nachfolgende Aufstellung war nicht mehr wirklich entscheidend gegenüber dieser anderen Sichtweise, die nur durch eine Wortänderung herbeigeführt wurde.

Das sollen nur ein paar ganz einfache Beispiele gewesen sein, wie wirkmächtig Sprache sein kann, und dass es sich lohnt, immer wieder mal die eigenen Sprachmuster zu überprüfen. Und das kann spannend, und sehr erhellend sein, und für die Klienten so hilfreich!

Literaturhinweise:

Wehling, E., (2016). Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht. Köln: Herbert von Halem Verlag.

 

Qualität in der Aufstellungsarbeit Teil 3: Über die Liebe

Einleitung

Ein gar nicht so seltenes Anliegen für eine Aufstellung ist eine als leidvoll erlebte Beziehung (bzw. Nicht-Beziehung) zwischen Klienten und den Eltern, bzw. einem Elternteil. Und da kommt es vor, dass versucht wird, das Anliegen „mit Liebe“ zu lösen in der Form, dass z.B. die Klientin aufgefordert wird, den Eltern mit Liebe (bzw. noch mehr Liebe) zu begegnen um die Beziehung zu verbessern.

Dass diese Vorgehensweise in speziellen Fällen einen großen Schaden anrichten kann – darauf möchte ich hier näher eingehen.

Über die Liebe als solche

Das Postulat, dass man nur zu einer Lösung kommt wenn man seine Eltern lieben kann, wird nach meiner Meinung oft missverstanden. Für mich geht es nämlich nicht darum, die Eltern aktiv zu lieben, sondern in Liebe meinen Frieden mit den Eltern zu haben – und das ist ein großer Unterschied! Hass, Zorn und Wut bindet, da es mich beschäftigt, und somit fesselt. Nur wenn ich jemanden in Liebe loslassen kann (auch wenn ich aus gutem Grund den Kontakt im Moment unterbreche) – bin ich frei.

Matthias Varga von Kibéd erklärt in seinen Seminaren zum Beispiel das Ziel von Aufstellungen mit den Worten: „Aufstellungen haben das Ziel, leidvoll Getrenntes zu verbinden, und leidvoll Verbundenes zu lösen“.

Darum kann es sehr wichtig sein, zuerst zu prüfen ob die Liebe wirklich das richtige Mittel der Wahl ist, oder ob sie erst der zweite Schritt vor einem notwendigen ersten Schritt der Abgrenzung mit dem Ziel der Stabilisierung ist. Wird das nicht beachtet, kann es durch eine Aufstellung sogar zu einer Retraumatisierung kommen!

Die Gefahr der Retraumatisierung

Um hier Zusammenhänge zu verstehen, hat mir meine Ausbildung in lösungsorientierter Psychotraumatologie bei Hélène Dellucci geholfen. Ich denke, nicht nur bei dieser Variante der Trauma-Arbeit kennt man den Begriff der konstruktiven und nicht-konstruktiven Bindung.

Wir Menschen stehen ja immer in einem Spagat zwischen „Ich“ und „Gemeinschaft“. Je nach Kontext ist es einmal wichtig auf meine Bedürfnisse zu achten, und mal ist es hilfreich meine Bedürfnisse zugunsten der Gemeinschaft hintan zu stellen.

Eine konstruktive Verbindung besteht somit in einem steten Ausbalancieren zwischen abgrenzen und verbinden. Es Bedarf der Fähigkeit, seine eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen, in einer guten Dosis für sich selbst sorgen zu können ohne dem anderen damit zu schaden.Geht es einem in einer konstruktiven Bindung gut oder schlecht, wird die Andere (Tochter oder Mutter) ähnliches empfinden.

In einer nicht-konstruktiven Bindung ist das anders: Es beginnt zum Beispiel damit, dass die Tochter nicht mehr gut für sich sorgt aus Rücksicht auf die Mutter. Diese legt die Erfüllung ihrer Bedürfnisse immer mehr in die Hände der Tochter. Die Loyalität zur Mutter ist größer, als zu sich selbst. Dieses Verhalten verstärkt sich, so dass im weiteren Verlauf auch bestehende andere Beziehungen abbrechen, da es andere Personen nicht aushalten, wenn die Tochter sich nicht um sich, sondern nur noch um die Mutter kümmert. So entsteht langsam eine exklusive Beziehung zwischen den beiden, wobei die Dosis mit der Zeit erhöht werden muss.

Wenn jetzt versucht wird in einer Aufstellung zu erreichen, diese Problematik durch Liebe lösen zu wollen, indem die Tochter die Mutter oder die Eltern lieben soll bzw. es die Aufgabe der Tochter sei, den Eltern mit (noch mehr) Liebe zu begegnen, verstärkt man zusätzlich diese nicht-konstruktive Bindung! Und damit handelt man gegen die Interessen der Klientin, denn sie erfährt erneut durch die Aufstellung, von der sie sich ja Hilfe erhofft, dass die Eltern im Recht sind – und sie sich zu fügen hat und keine eigenen Bedürfnisse haben darf. Das kann zu einer Retraumatisierung der Klientin führen - etwas schlimmeres kann man solchen Klientinnen nicht antun, und es ist das Gegenteil einer guten ethischen Haltung.

Hier kann das erste Ziel nur darin bestehen, sich von der Mutter zu lösen – was aber ein schwieriger und langwieriger Prozess ist, der nicht mit einer Aufstellung alleine zu erreichen ist. Sehr wichtig ist es aber auch immer zu erklären, dass zu einem späteren Zeitpunkt – wenn es gewollt ist – selbstverständlich wieder ein Kontakt möglich ist. Denn wenn diese Möglichkeit nicht angeboten wird, kann sich der loyale Anteil massiv dagegen wehren und die hilfreiche Abnabelung wird nicht funktionieren.

Wichtig: Die Anamnese

In einem kurzen Vorgespräch direkt vor einer Aufstellung sind solche Zusammenhänge nur schwer zu erkennen. Dies ist ein weiterer Grund, warum für mich ein externes Vorgespräch so wichtig ist – und ich bleibe dabei: Eine Aufstellung ohne ein vorheriges externes Vorgespräch ist für mich ein Kunstfehler, und widerspricht auch unseren Weiterbildungsrichtinien. Selbst wenn man in einem Vorgespräch nur die Geschichte aus der Sicht der Klientin erfährt, kann man daraus oft eindeutige Hinweise erkennen, die zumindest eine gewisse Vorsicht als ratsam erscheinen lassen.

So kann man z.B. durch die Erstellung eines Genogramms sehr schnell einen fundierten Überblick über die Familien-Konstellation bekommen. Bei der Gelegenheit kann man auch nach der Kindheit fragen, wie diese erlebt wurde. Bei einer einfachen Frage habe ich oft ein „gut“ erhalten, und das stehen gelassen. Bis ich begriffen habe, dass jeder Mensch genau EINE Kindheit erlebt und somit selten eine Vergleichsmöglichkeit hat. Seitdem frage ich die Klienten im Vorgespräch immer nach den drei Grundbedürfnissen, die Kinder haben, und wie sie es erlebt haben:

- Die Sicherheit des Ortes

- Die Sicherheit der Bezugspersonen (müssen nicht zwingend immer nur die Eltern sein),

- Die Sicherheit, dass sie in Ordnung sind, so wie sie sind.

Der letzte Punkt ist der wichtigste und bedeutet, dass man auch mal gelobt wird, Körperkontakt möglich war, die Eltern als stärkend empfunden wurden. Dies ist elementar, um ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln zu können.

Auf diese Weise gibt es auch eine gute Chance, auf nicht-konstruktive Bindungen aufmerksam zu werden.

Ich hoffe, ich konnte mit diesen Ausführungen auf eine Falle hinweisen, in die man in bester Absicht geraten kann. Denn das oberste Ziel sollte es sein, dass niemand aus einer Aufstellung schlechter raus geht, als er reingegangen ist.

 

Qualität in der Aufstellungsarbeit Teil 4: Über Intuition und das Befolgen von Regeln

Einleitung

Im Jahrbuch der DGfS von 2019 „Essenzen der Aufstellungsarbeit“ sind eine Reihe von Artikeln enthalten, die sich unter anderem mit der Intuition beschäftigen. Dies hat mich angeregt, einige Gedanken aus meiner Sicht zum Thema „Intuition“ unter dem Aspekt der Qualität zu formulieren.

Was ist Intuition?

Ich hatte mir lange keine Gedanken darüber gemacht was Intuition ist, bis in einem Seminar am SySt-Institut Godehard Stadmüller formulierte „Intuition ist nichts anderes als die Summe unseres Wissens und unserer Erfahrungen.“ Weiterhin formulierte er, dass dabei der Bereich der Erfahrungen der für ihn der wichtigere Teil ist.

Diese Erklärung hat mir sofort eingeleuchtet und fühle mich in einem Beitrag zum oben erwähnten Buch von Markus Hänsel bestätigt. Dort zitiert er den Nobelpreisträger Daniel Kahnemann, der für Intuition die Begriffe „langsames und schnelles Denken“ eingeführt hat. Das langsame Denken ist demnach der uns bekannte Prozess sich eine Entscheidung zu erarbeiten, in der Aufstellungsarbeit also anhand von Positionen, Winkeln, von dem was bisher geschehen ist und gesagt wurde, Körperhaltungen und Gesichtsausdrücken, aber auch Vorwissen aus einem Vorgespräch eine Idee für eine nächste Intervention zu entwickeln.

„Das intuitiv erfahrungsbasierte 'schnelle Denken' führt dagegen die komplexe Vielfalt einzelner Wahrnehmungsinhalte zu einem unmittelbaren Urteil über die Wirklichkeit zusammen, etwa bei der Erfassung von Gesichtsausdrücken oder der Deutung sozialer Interaktionen“ (Hänsel, 2019).

Beiden Erklärungen ist gemeinsam, dass Intuition daher immer nur aus mir selbst kommt. Intuition ist demnach keine „göttliche Eingebung“ oder eine Information „aus dem wissenden Feld“, sondern man könnte auch sagen, dass es eine „Zweitmeinung unseres Unbewussten“ ist.

Intuition in Weiterbildungen

Intuition ist auch in der Aufstellungsarbeit von großer Bedeutung, und ist bei speziellen Varianten wie der phänomenologischen Arbeit, und natürlich auch bei der Bewegung der Seele / des Geistes, oft das zentrale Werkzeug.

Wenn man der Annahme folgt, dass Intuition aber wesentlich von der eigenen Erfahrung gespeist wird, dann würde das bedeuten, dass man Intuition nicht lehren und nicht in einem Unterricht lernen kann, sondern sich in der Praxis erarbeiten muss. Somit haben Teilnehmer einer Weiterbildung mit dem Schwerpunkt der phänomenologischen Arbeitsweise ein „Henne / Ei“-Problem: Wie kann ich sicher mit der Arbeit beginnen, wenn ich noch keine großen Erfahrungen und somit noch keine mir erarbeitete Intuition habe, aber anfangen muss, um diese zu erlangen?

Kann man Intuition wirklich nicht lernen?

In Diskussionen kommt manchmal das Argument, dass es sehr wohl möglich sei, Intuition innerhalb einer Weiterbildung zu lehren, da es einzelne Teilnehmer ja sehr wohl geschafft haben.

Ich kann das bestätigen – aber nur in sehr wenigen Fällen. In meinen bisherigen neun Weiterbildungen gab es immer maximal zwei Teilnehmerinnen, die tatsächlich über eine gute Intuition verfügten. Nach meinen Beobachtungen waren das Menschen, die entweder eine schwierige Kindheit hatten und dadurch schon sehr früh lernen mussten ständig wahrzunehmen wie die Stimmung im Elternhaus ist, oder viele Jahre schon durch Meditation, Yoga, schamanische Praktiken etc. sich eine Intuition erarbeitet haben.

Somit würde die Weiterbildung in Aufstellungsarbeit von individuellen persönlichen Erfahrungen, oder einer langjährigen Vorarbeit abhängen.

Eine Lösungsmöglichkeit

Eine gute Lösung mit der Aufstellungsarbeit sicher beginnen zu können, bietet die von Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd entwickelte „transverbale Sprache“. Diese Grundlage der Strukturaufstellungen umfasst neben dem gesprochenen Wort auch beispielsweise Winkel, Abstände oder Blickrichtungen. Hier bitte ein oder zwei konkrete Beispiele Weiterhin umfasst sie hilfreiche Regeln für eine gute handwerkliche Vorgehensweise, verschiedene Interventionen zur Überprüfung von Hypothesen, die den Anfängern der Aufstellungsarbeit die nötige Sicherheit gibt, mit der Arbeit beginnen zu können – und den Klienten die Sicherheit, das Aufstellungen qualitativ gut durchgeführt werden.

Zentral ist dabei die Haltung, dass es nicht die Aufgabe der Leitung einer Aufstellung ist eine Lösung zu finden, sondern Hypothesen zu bilden, diese zu überprüfen und die Ergebnisse den Klienten fragend anzubieten. Nur die Klienten – als die alleinigen Experten ihres Lebens – können schließlich feststellen, ob das gezeigte für sie einen Sinn ergibt. Und manchmal kommt eine Information einfach noch zu früh und es braucht noch etwas Zeit – aber auch das bestimmen ganz alleine die Klienten!

Auf diese Weise kann man mit der Aufstellungsarbeit beginnen, und sich so über die Jahre die Intuition aneignen, um sich nach vielen Jahren vielleicht auch anderen Aufstellungsvarianten wie der „Bewegung der Seele / des Geistes“ zu nähern. 

Ein gutes Beispiel für mich sind Musiker: Ein Berufsmusiker muss auch jahrelang sein Instrument kennen lernen, Tonleitern, Theorie und Praxis lernen und üben. Und nach vielen vielen Jahren kann dann auf dieser Basis Kunst entstehen.

Natürlich gibt es auch - wie oben beschrieben - begabte Menschen, die diese Prozesse abkürzen können. Für eine sichere und qualitative Arbeit ist aber, nach meiner Meinung, eine gute handwerkliche Grundlage eine Voraussetzung. Anfängern eine rein phänomenologische Art der Aufstellungsarbeit, oder direkt die „Bewegung der Seele / des Geistes“ lehren zu wollen, ist für mich unter qualitativen Gesichtspunkten ein Ding der Unmöglichkeit. Denn Intuition kann man nicht in einer Weiterbildung gelehrt bekommen, man muss sie sich in der Praxis erarbeiten.

Manchmal gibt es die Befürchtung, dass durch diese zunächst eher handwerkliche Vorgehensweise Aufstellungen zu technisch bleiben und das Wesentliche, dass diese Arbeit ja ausmacht, zu kurz kommt. Auf kritische Fragen, ob ein Regelwerk, eine Grammatik in der Aufstellungsarbeit nicht die Kreativität einschränken würde, antwortete Varga von Kibéd in verschiedenen Seminaren: „Grammatik war nie ein Feind der Poesie. (...) Die Kenntnis der Grammatik einer Sprache hat noch niemanden daran gehindert, ein schönes Gedicht zu schreiben.“ 

Fazit

Für mich würde zu einer qualitativen Weiterbildung in Systemaufstellungen unbedingt die Vermittlung der Regeln und der Grammatik der transverbalen Sprache gehören. Jeder, der diese Arbeit erlernen will, sollte davon Kenntnis haben – natürlich unabhängig davon, wie er später selbst arbeiten will, oder wohin der eigene Weg sich noch entwickelt.

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