Phänomenologie - da war doch was?

Vorbemerkung der Redaktion

Der folgende Beitrag von Thomas Germann, als eine Art offener Brief verfasst, ist eine Replik auf einen Artikel von Holger Lier und Christiane Lier, der im PdS Themenbuch mit dem Schwerpunkt „Essenzen der Aufstellungsarbeit“ bereits in 2019 erschienen ist. Wir haben mittlerweile die Erfahrung gemacht, dass Sammelbände durchaus nicht von vorne bis hinten durchgelesen werden, und deshalb Reaktionen auf einzelne Beiträge später kommen. Wir sehen, dass der Beitrag deshalb auch 2021 noch aktuell und außerdem auf eine Art auch zeitlos ist. Die Auseinandersetzung über Haltungen, Ethik, Phänomenologie und Systemik, über Bert Hellingers Arbeit und diejenige anderer Aufsteller*innen seit den Anfängen von Hellinger ist unserer Meinung nach wichtig und wird weitergehen, solange es diese Arbeit gibt und wir eine breite Vielfalt von Aufsteller*innen haben. Dafür stehen wir auch als Redaktion. Wir arbeiten unserem Verständnis nach gemeinsam mit einer Methode, die auf Einschließlichkeit als einem zentralen Prinzip aufbaut. Da ist es unserer Achtens geboten, diese Vielfalt auch abzubilden - Inklusive aller unterschiedlichen Ansätze (theoretischer, methodischer, philosophischer, religiöser, spiritueller… Natur), gegenseitiger Kritik und im Ringen um Erkenntniswege.

Wir sehen Gehrmanns offenen Brief als Beitrag und Anregung zur Diskussion um eben diese Punkte und lesen ihn auch so. Dass die kritisch besprochene Autorin und der Autor teilweise mit ihrer Stellungnahme direkt identifiziert und kritisiert werden entspricht nicht unserer eigenen, gemäßigteren und moderierenden Tonlage und Haltung als Redaktion. Wir stehen aber zu der oben beschriebenen inhaltlichen Auseinandersetzung die Gehrmann führt. Selbstverständlich haben wir Christiane Lier und Holger Lier gefragt, ob sie im FORUM mit einer Replik auf Thomas Gehrmann Stellung nehmen möchten. Und wie üblich, steht es jedem Leser und jeder Leserin frei, die Kommentarfunktion zu nutzen und sich am Austausch zu beteiligen.

Den Link zum Artikel von Lier und Lier finden Sie am Ende des offenen Briefes.


O Ethik, du schwere Keule

von Thomas Gehrmann

Zum Artikel Lier & Lier, Systemische Qualitätsmerkmale in Aufstellungen [1]

Vorrede für die ausländischen Leser,
vielleicht auch hilfreich für manche inländischen Leser

Der nachfolgende Text diskutiert einen Artikel von Holger und Christiane Lier aus dem Jahr­buch Praxis der Systemaufstellung von 2019 mit dem Titel Systemische Qualitätsmerkmale in Aufstellungen. Dieser Artikel (und auch meine Auseinandersetzung damit) hat einen Kontext, der außerhalb Deutschlands vielleicht schwer verständlich ist. Zum besseren Verständnis schicke ich folgende Informationen voraus:

1) Die Begriffe „Familien­stellen nach Bert Hellinger“ einerseits und „Systemaufstellungen“ oder „systemische Aufstellungen“ andererseits werden in der interessierten Öffentlichkeit in fast allen Ländern als gleich­be­deutend ver­standen. In Deutschland war es ähnlich, als Mitte der 90er Jahre die Hellinger-Arbeit eine enorme Popularität erlangte. Hier hatte es jedoch eine systemische Familientherapie schon vor Hellinger gegeben, die an völlig anderen Kon­zepten orientiert war, nämlich der soziologischen Systemtheorie und dem Konstruktivismus.

Beides hat mit Bert Hellingers Arbeit (in seinem eigenen Verständnis) nichts zu tun. Führende systemische Therapeuten, im Folgenden „Systemiker“ ge­nannt, grenzten sich seit den späten 90ern öffent­lich von Hellinger ab und erklärten (aus ihrer Perspektive mit gewissem Recht), dessen Arbeit sei nicht systemisch. Vor allem in den Jahren 2002 bis 2004 diffamierten sie Hellinger und seine Vor­gehensweise als „ethisch nicht vertretbar und gefährlich“.

Die massive Kampagne der deutschen systemischen Therapeuten gegen die Person und die Arbeitsweise von Bert Hellinger war sehr wirkungsvoll. Parallel dazu isolierte sich Hellinger mit sei­ner Frau Sophie seinerseits von der Bewe­gung der Systemaufsteller in Deutsch­­land. Beides zusammen hatte die Folge, dass danach auch jene Mitglieder der DGfS (Deutsche Gesellschaft für Systemaufstellungen)  verstummten, die durchaus „nach Hellinger“ aufstellten, während jene, die selbst der früheren systemischen Therapie anhingen, das Wort führten.

2) Bis 1999 durfte in Deutschland jeder als Therapeut arbeiten, der sich selbst für qualifiziert hielt. In jenem Jahr wurde ein Gesetz eingeführt, das den Titel „Psychotherapeut“ für Ärzte und Psychologen reservierte. Das betraf auch Bert Hellinger, der – unabhängig von seinen tatsäch­lichen Fähigkeiten – die formalen Voraussetzungen des neuen Gesetzes nicht erfüllte. Gleichzeitig boten viele Aufsteller der „zweiten Generation“ (nach Hellinger) Ausbildungs­kurse in Familienstellen an, sodass viele Menschen mit ganz unterschiedlichen beruflichen Voraussetzungen begannen, mit Aufstellungen zu arbeiten. Für Bert Hellinger war das so in Ordnung. Er weigerte sich auch, das Eigentum an seiner Methode und die Kontrolle über ihre weitere Entwicklung rechtlich für sich zu beanspruchen.

Therapeuten, die in den 80er und 90er Jahren das Familienstellen bei ihm gelernt hatten, grün­deten 1998 die Internationale Arbeitsgemeinschaft Systemische Lösungen nach Bert Hellinger, die heutige DGfS. Von Anfang an gab es hier starke Bestrebungen, die Arbeit mit Systemauf­stellungen zu „professionalisieren“ und Maß­regeln zur „Qualitätssicherung“ zu ergreifen. Dafür einigten sie sich untereinander, wer in Zu­kunft als Aufsteller oder als Ausbilder von Aufstellern „anerkannt“ sein würde. Auch das hatte mit Bert Hellinger nichts zu tun.

Aktuell spielt der Artikel von Lier & Lier, Systemische Qualitätsmerkmale in Aufstellungen, eine Rolle in einer Debatte um „Ethik-Richtlinien“ und „Qualitätsmerkmale“ in der DGfS. Wenn man ihn aufmerksam (und vor dem hier dargestellten Hintergrund) liest, erkennt man, dass die alten Positionskämpfe nie aufgehört hat und die Wunden nicht verheilt sind. Die Konfliktlinien sind die gleichen wie schon vor so vielen Jahren, unversöhnt und vor allem: ungeklärt.

Nicht so harmlos

Vorab möchte ich kurz etwas zu mir sagen: Ich bin seit 20 Jahren Aufsteller in der phäno­menologischen Vorgehensweise nach Bert Hellinger. Ich bin Supervisor, also weder Arzt noch Therapeut. Ich bin nicht Mitglied der DGfS, und wenn ich Texte wie den lese, der hier zur Debatte steht, dann weiß ich auch, warum ich es nicht bin.

Als ich anfing, den Artikel von Lier & Lier zu lesen, hatte ich den Eindruck, sie würden sich bemühen, verschiedene Positionen neutral und über trennende Gräben hinweg darzustellen. Bald wurde jedoch deutlich, dass sie in ihren Ausführungen konstruktivistisch-systemischen Glaubenssätzen folgen, ohne das offen zu sagen. Ihre Ablehnung der phänomenologisch-systemische Aufstellungsweise nach Hellinger könnte man aus einigen ihrer Formulierungen herauslesen, vor allem aber aus dem Schweigen, das sie darüberbreiten.

Der Artikel Systemische Qualitätsmerkmale in Aufstellungen enthält einen Katalog von etwa einem Dutzend vermeintlicher Qualitätsmerkmale. Am einem Fall-Beispiel erzählen die Autoren, wie eine Aufstellung bei ihnen so abläuft. Das Beispiel wird in einzelne Schritte von der Anmeldung der Seminar-Teilnehmerin bis zur möglichen Nachbetreuung aufgegliedert. Diese Schritte bekommen eine Bezeichnung und werden zu systemischen Qualitätsmerkmalen erklärt. Diese Auswahl wirkt dementsprechend zufällig.

Eine Begründung, warum gerade ihre Arbeitsweise ein Ausweis für „systemische Qualität“ sein soll, ersparen sich Lier & Lier. Wozu auch? Im Kosmos ihrer Darstellung ist die Mög­lichkeit, in anderer Weise aufzustellen, nicht vorgesehen.

Da ihr Katalog von Einzelkriterien nicht begründet ist, wirkt er auch wenig überzeugend. Daher benennen sie drei Prämissen: die „Qualitätsdimensionen“, „die Haltung“ und die „humanistische Ethik“. Die sollen es nun richten und begründen, warum die nachfolgende Auswahl von „Qualitätsmerkmalen“ so ausfällt und nicht anders. Tatsächlich erscheint die Auswahl dieser drei Prämissen genauso zufällig wie der nachfolgende Katalog von „Qualitätsmerkmalen“, und auch sie werden von den Autoren nicht begründet.

Von dem, was in diesen drei Prämissen vorgetragen wird, findet sich in den Lier’schen „Qua­li­tätsmerkmalen“ nichts wieder. Keines von beiden, der Katalog der Merkmale und die soge­nannten Orientierungshilfen, begründet das andere. Da ist keine Logik zu er­kennen, höchstens in der Art von „Kunden, die uns die huma­nis­tische Ethik abge­kauft haben, mochten auch unsere Qualitätsmerkmale.“

Lier & Lier beklagen „Unklarheiten“ beim Begriff „systemisch“. Sie selbst verwenden diesen Begriff wie selbstverständlich im Sinn der konstruktivistisch-systemischen Familien­therapie. Ehrlicher­weise müsste der Titel ihres Artikels heißen: Qualitäts­merkmale in konstruk­ti­vis­tisch-systemischen Aufstellungen. Dann könnten alle, die nach Hel­linger auf­stellen, sofort erkennen: „Ah, das hat mit uns nichts zu tun.“ Aber der Titel spricht ganz allgemein von Auf­stellungen – nicht nur (im Verständnis der Autoren) „systemischen“.

So allmählich wird deutlich, dass dieser nette Versuch von Lier & Lier nicht so harmlos ist, wie er daherkommt. Implizit stellt er meines Erachtens eine verbandspolitische Kampfansage gegen alle dar, die von der konstruktivistisch-systemischen Grundausrichtung abweichen. Der Katalog der „Qualitätsmerkmale“ sieht nicht nur so aus wie die Liste der Kriterien, welche die systemischen Verbände SG/DGSF in ihren Schriften von 2002 bis 2004 gegen Hellinger ins Feld führten. Sie machen genau da weiter. Es ist ein Versuch, die Aufstellungsarbeit nach Hellinger im Bereich der DGfS endgültig zu disqualifizieren.

Hellinger? War damals...

Die feindselige Attitüde vieler Systemiker gegen Hellinger und seine Arbeit hat sich seit damals, Mitte der 2000er Jahre nicht geändert, wohl aber der Tonfall, in dem sie sich äußert. Die Anti-Hellinger-Statements von damals waren oft   unsachlich und polemisch .Sie forderten (in ihrem Sinne) „systemische“ Aufsteller dazu auf, sich von Hellinger zu dis­tan­zieren. Dabei dokumentierten jene „Erklärun­gen“ eine profunde Ahnungslosigkeit ihrer Verfasser, worin Bert Hellingers Vorgehensweise eigent­lich bestand. Sie spürten eher, dass das, was Hellinger machte, „anders“ war. Gleich­zeitig war es zu nah an der eigenen Arbeit, um geduldet werden zu können.

Gemessen daran ist der Artikel von Lier & Lier zurückhaltend und milde. Im ganzen Artikel fällt kein böses Wort, weder gegen Bert Hellinger noch gegen Aufsteller, die es mit seiner phänomenologischen Vorgehensweise halten. Auch kommt Hellingers Name in ihrem Artikel sogar häufiger vor als irgendein anderer Name. Und doch ist Hellinger darin nicht anwesend. Sowohl Bert Hellinger als Person als auch die Aufsteller, die „nach Hellinger“ arbeiten, kommen hier nur in der Vergangenheitsform vor:

Die Verwendung des Begriffes systemisch in Zusammenhang mit Aufstellungen hat lange zu einem Disput zwischen Therapeutinnen der beiden systemischen Verbände (...) einerseits und der an Hellinger orientierten Therapeuten anderseits geführt“ – damals, in der Vergangenheit. Weiter Lier & Lier: „Damals wurde die Arbeitsweise [Aufstellungen] nicht allein als eine Methode angesehen, sondern mit der Vorgehensweise Hellingers und dessen Ausführungen gleichgesetzt.“ Ehrlich gesagt – genau so sehe ich das heute noch!

Was hat sich denn geändert? Lier & Lier beziehen sich exemplarisch auf den Untertitel von Gunthard Webers Buch Zweierlei Glück. Sie schreiben: „Im ersten Buch über das Familien­stellen Zweierlei Glück (Weber, 1993) wurde der Begriff systemisch im Untertitel verwendet: ‚die systemische Psychotherapie Bert Hellingers’. In­zwischen gab es hier offensichtlich ein Umdenken und der Untertitel wurde geändert in: ‚das klassische Familienstellen Bert Hellingers’, der Ausdruck systemisch wurde nicht weiter benutzt.“

Etwas genauer müsste es heißen: „Der Ausdruck systemisch wurde von Gunthard Weber an dieser Stelle nicht weiter benutzt.“ Die Lier’sche Formululierung könnte leicht missverstanden werden als: „Der Ausdruck systemisch wurde für das Familienstellen Bert Hellingers generell nicht weiter benutzt.“ Das stimmt natürlich nicht. Was Gunthard Weber dazu bewogen hat, das Wort systemisch im Untertitel seines Buches wegzulassen, wissen wir nicht. Ein Um­denken seinerseits? Vielleicht. Was aber sollen wir dann daraus schließen, dass es im Lauf der Jahre vier verschiedene Untertitel [2] gab? Gab es dreimal ein Umdenken, zumindest beim Her­ausgeber?

Lier & Lier zufolge hat „die Verwendung des Begriffes zu einem Disput geführt.“ Sie be­nennen aber nicht, wer eigentlich diesen Disput geführt hätte. Mit ihrer subjektlosen Darstellung stellen Lier & Lier ihren Lesern eine Situation vor Augen, die einfach so ist, wie sie ist, und wo es auch nichts zu hinter­fragen gibt. Das wäre in diesem Fall auch schwer zu sagen, denn zu einem Disput gehören (mindestens) zwei Parteien, die sich über eine Streit­frage auseinandersetzen. Einen offenen Brief zu ver­fassen oder als Verband Stel­lungnahmen zu veröffentlichen, ist zwar legitim, aber Disput geht anders.

Aufstellungen – ein medizinischer Beruf?

Gleich im zweiten Absatz ihres Artikels beziehen sich Lier & Lier auf das Handbuch der Qualität in der Aufstel­lungsleitung von Nazarkiewicz & Kuschik. Sie schreiben: „Zur Orien­tierung nennen Nazarkiewicz und Kuschik die drei Qualitäts­dimensionen, die das Gesund­heitswesen als Maßstab zur Qualitätssicherung einsetzt.“(Lier/Lier, S. 179) Ab sofort ist gesetzt, dass man sich an diesen „Qualitätsdimensionen“ orientiert. Warum? Weil es eben im Handbuch steht!

Bin ich mit meiner Kritik zu formalistisch? Zumindest hätte ich eine sachliche Frage: Wer, bitte, ist „das Gesundheitswesen“? Bei Lier & Lier bleibt „das Gesund­heitswesen“ eine anonyme Größe. Gibt man diese vier Stichworte (Gesundheitswesen, Struktur-, Prozess- und Ergebnis-Qualität) zur Suche bei Google ein, wird man zur Webseite der Kassen­ärzt­lichen Vereinigung Sachsen geleitet und findet dort einen Artikel über Die drei Ebenen der Qualitäts­sicherung. Alles, was dort ausgeführt wird, leuchtet mir ein. Allerdings bin ich nur ein Laie. Die Kriterien, die dort entfaltet werden, sind spezifisch auf den Betrieb von Arztpraxen gemünzt. Mehr behauptet „das Gesund­heitswesen“ auch nicht.

Mag sein, vielleicht ist manches davon auch auf andere Berufsfelder übertragbar. Handwerks­betriebe, zum Beispiel. Aber die Aufstellungsarbeit? Lier & Lier gehen nicht näher darauf ein. Sie teilen nur mit: „Zur Orien­tierung nennen Nazarkie­wicz und Kuschik die drei Qualitäts­dimensionen, die das Gesundheitswesen als Maß­stab zur Qualitäts­sicherung ein­setzt.“ Das ist eine überprüf­bare Tatsache: Sie nennen! Daran ist nicht zu ändern. Was gäbe es da noch zu hinterfragen?

Doch, ich erlaube mir die Frage: Wenn „das Gesundheitswesen“ sich selbst bestimmte Maß­stäbe zur Qualitätssicherung setzt – was geht das uns als Aufsteller an? Sind wir denn alle Ärzte? Oder sollten wir es etwa sein? Lier & Lier sagen nur: „Als Erstes ist die Struktur­qualität angege­ben, die sich aus Rahmen­bedingungen wie u. a. aus der beruflichen Quali­fikation der Aufstel­lungsleitung ergibt.“ Wie, bitte? Falls Lier & Lier eine Vorstellung davon haben, worin „die berufliche Qualifi­kation der Auf­stellungs­leitung“ denn bestehen sollte, teilen das ihren Lesern jedenfalls nicht mit. Was sollen, was können wir nur daraus schließen, wenn sich Aufsteller an Normen orientieren sollen, die für den Betrieb von Arztpraxen verfasst wurden?

2003 sagte Bert Hellinger in einem Vortrag: „Es hat sich herausgestellt, dass viele Krank­heiten mit Beziehungskonflikten zusammen­hängen und dass die Lösung eines Bezie­hungs­konfliktes sich auch auf die Krankheit heilend auswirken kann. Auf diese Weise wurde das Familien-Stellen auch für die Medizin inter­essant. Doch auch wenn das Familien-Stellen offensichtlich bei vielen psy­chotherapeutischen oder medizi­nischen Problemen hilft, ist es deswegen noch keine Psycho­therapie oder Kranken­behand­lung. Das Familienstellen kann für verschiedene Ziele eingesetzt werden.“ [3]

Kürzlich hat mir jemand, der damals dabei war, erzählt, dass 2002 oder 2003 bei einem Aufsteller-Treffen in Würzburg massiv dafür geworben wurde, die Aufstellungsarbeit zu professionalisieren und Qualitätsstandardsfestzuklopfen.

In jener Zeit leitete ich in Berlin zusammen mit einer Kollegin Ausbildungskurse. Damals war ich noch berauscht von der Möglichkeit, alles Mögliche aufzustellen und neue „Formate“ zu erfinden. Abgesehen davon muss ich sagen: Unsere Kurse waren richtig gut! Gern wären wir auch der IAG beigetreten. Leider mussten wir zur Kenntnis nehmen, dass damals nur Leute aufgenommen wurden, die einen akademischen Bildungsabschluss und Berufserfahrung in einem Heilberuf hatten. Die Kollegin war Heilpraktikerin, hatte aber keinen Uni-Abschluss. Ich war Volkskundler M.A., aber ohne Heilberuf. Wir waren nicht gut genug für die IAG.

Diese Schranke wurde später, mit der Umwandlung der IAG in die DGfS, zwar formell auf­gehoben, aber als geistige Einstellung in einigen Köpfen scheint sie präsent wie eh und je. Ent­sprechend aktuell wirkt auch Berts Vortrag von 2003 noch. Ich behaupte nicht, dass sich Lier & Lier bewusst sind, dass sie mit ihrem Streben nach Qualitätsstandards in einer be­stimmten, damals schon konflikthaften Tradition stehen. Möglicherweise sind sie sich ebenso wenig bewusst, dass sie sich damit klar gegen Hellingers Ver­ständnis der Aufstellung­sarbeit positionieren. Aber dass sie es tun, ist eine Tatsache.

Ich vermute nicht, dass die DGfS auch praktisch wieder einführen will, dass nur Mediziner, Heilpraktiker und Psychotherapeuten Mitglieder sein dürfen. Mit dem Lier’schen Ansatz würde aber ein Bild des Arztberufes als Leitbild festgelegt. Die Einsetzung von „Qualitäts­merk­malen“ oder eines Ethik-Bei­rates begründen ein Gewissen. Jedes Mitglied des Verbandes kann sich dann selbst über­prüfen, ob er diesen Ansprüchen genügt oder nicht und sich gege­ben­enfalls unzulänglich fühlen und still schämen.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Aufsteller müssen nicht Ärzte sein, aber natürlich können Ärzte auch Aufsteller sein. Doch auch für sie gilt, dass sie die Qualitätsstandards, die sie in ihrer Arztpraxis einhalten, nicht auf ihre Aufstellungskurse übertragen müssen.

Weiter oben schrieb ich, dass ich bewusst nicht von einem Berufs-Feld der Aufsteller spräche. Zum Thema Aufstellen als Beruf habe ich noch eine Geschichte von Hellinger. Eine Frau fragte ihn bei einem Seminar: „Mein Hauptberuf ist Finanzfrau. Seit anderthalb Jahren bin ich Familienauf­stel­lerin. Meine Frage ist: Darf ich zu meinem früheren Beruf zurückkommen und gleichzeitig Fami­lien­stellen anbieten?“ Die Übersetzerin erläuterte: „Sie fragt sich, ob sie die Wahl treffen muss: entweder sich mit Finanzen und Business be­schäftigen oder Familien­stellerin sein. Das ist das Übliche hier.“

Bert antwortete: „Im Gegenteil! Wer noch einen anderen Beruf hat, der braucht das Familien­stellen nicht für seinen Lebensunterhalt. Wenn er nur das Familienstellen hat, dann braucht er die Klienten. Und dann sind die Klienten viel zu stark. Also, in Deutschland gab es eine berühmte Psycho­therapeutin, die hat gesagt: ‚Um wirklich anderen helfen zu können, braucht die Psychotherapeutin einen anderen Beruf. Dann ist sie unab­hängig.’ Also, du bist auf gutem Weg.“ (Seminar in St. Petersburg 2012)

Die Haltung

Eingangs schrieb ich, die Auswahl der drei „Orientierungshilfen“ (Kriterien des Gesundheits­wesens, Haltung, humanistische Ethik) erscheine so zufällig wie der Katalog der Lier’schen „Quali­tätsmerkmale“ selbst. Weder lässt sich eins aus dem anderen logisch herleiten, noch wird ein übergeordneter Begründungs-Zusammenhang dargestellt. Das heißt aber nicht, dass es einen solchen nicht gibt.

Wenn wir nämlich, nur mal so zum Spaß, unterstellen, Lier & Lier verfolgten eine heimliche Agenda, nämlich Hellingers Verständnis der Auf­stellungsarbeit, seine besondere Vor­gehens­weise und seine Haltung zu disquali­fizieren und die totale Deutungshoheit über die Aufstel­lungs­arbeit heim  in den Hoheitsbereich der syste­misch-therapeu­tischen Denkungsart zu holen – dann sieht es auf einmal so aus, als wären all diese Teile gar nicht so unter­schied­li­ch und unver­bunden. Dann fügen sie sich plötzlich auf wunderbare Weise zueinander.

Aus dem Handbuch übernehmen Lier & Lier, dass die Haltung der Aufstellungsleitung für die Qualität einer Aufstellung erheblich sei. Dieser Gedanke könnte jedem phänomenologischen Aufsteller ein vorsichtiges „Jaaa...“ entlocken, denn dass die Haltung des Aufstellers entscheidend sei, das haben wir von Hellinger gelernt. Allerdings ohne die Verbindung mit „Werten“.

Im Gegenteil! Nach Hellinger gehört zur Haltung des Aufstellers, dass der sich von seinen Vorannahmen, seinen Werten, seiner persönlichen Unterscheidung von falsch und richtig, kurz von seinem eigenen Wissen und Gewissen zurückzieht. Oder kurz: Nicht urteilen. Solch ein inneres Zurücktreten hinter das Vordergründige auch der eigenen Ansichten und Absichten ist der Kern der gesammelten Haltung, aus der heraus phänomenologisches Wahrnehmen überhaupt erst möglich wird. Haltung in diesem Sinn ist kein Beiwerk, das für die Hellinger-Arbeit auch irgendwie wichtig ist. Die Hellinger-Arbeit ist nur möglich mit dieser Haltung, und zwar mit genau dieser Haltung, nicht irgendeiner.

Lier & Lier hingegen stellen es so dar, als sei die Haltung des Aufstellers beliebig und aus­tauschbar: „Einen weiteren Einfluss auf die eige­ne Haltung und damit auf die Qualität als Aufstellungsleitung haben die unterschiedlichen Theoriekonstrukte­ der ver­schiedenen Psycho­therapie­richtungen.“(Lier/Lier, S. 180) Wollen sie damit sagen, dass die theoretischen Annahmen (oder meinet­wegen Konstrukte) der Psychoanalytiker oder Verhaltenstherapeuten Einfluss auf die Haltung von Aufstellern hätten? Da bin ich aber überrascht. Wahrscheinlicher ist, dass sie an ein bestimmtes „Theoriekonstrukt“ gedacht haben, nämlich das systemische, dieses aber als gleichartig und gleichwertig inmitten „der ver­schiedenen Psycho­therapierichtungen“ verorten möchten.

Was Bert Hellinger als „gesammelte Haltung“ beschrieben hat, ist substantiell. Sie ist für den, der sie einnimmt, auch körperliche Haltung erfahrbar, sie ist sogar äußerlich sichtbar. Im Ver­gleich dazu ist das, was Lier & Lier als „Haltung“ beschreiben, substanzlos, ein Spiel mit Gedanken, das in der einen Psycho­therapie-Schule so und in einer anderen so gespielt wird. „Die Haltung“, lassen Lier & Lier ihre Leser wissen, „wird nach Blume als ein Verhält­nis beschrieben, dass man sich selbst und der Welt gegenüber einnimmt.“ Das kann alles heißen. Oder auch nichts.

Zusammenfassend muss man feststellen, dass Lier & Lier, ohne es ausdrücklich zu sagen, die Hellinger-Arbeit als nicht-existent behandeln und bei einem seiner Kernelemente, der Haltung, einen Entwurf einführen, der durch nichts anderes überzeugt, als dass er ein radikaler Gegen­entwurf gegen die Aufstellungsarbeit nach Hellinger ist.

Weiter beziehen sich Lier & Lier auf Diana Drexler und ihr „systemisch integratives Modell.“ Und was will dieses Modell denn integrieren? „Prinzipien und Vor­gehensweisen systemischer The­rapie der Heidelberger Schule, der ‚klassischen’ Auf­stellungs­arbeit und phänomeno­logische Konzepte aus psychodynamischen sowie körper­orientierten Therapie­traditionen.“ Klassische Aufstellungsarbeit? Phänomenologische Konzepte? Und das zusammen mit „Prin­zipien syste­mischer Therapie“? Das wirft Fragen auf!

Erste Frage: Wovon ist hier die Rede? Was meint Drexler mit „klassischer Auf­stellungs­arbeit“? Lier & Lier beziehen sich auf „das klassische Familienstellen Bert Hellingers“ nur als Termi­nus, der im Untertitel von Zweierlei Glück auftaucht. Demnach wäre mit dem „klassischen“ das phänomeno­­logische Familienstellen nach Hellinger gemeint. Soll das mit „Prin­zi­pien und Vor­gehensweisen systemischer The­rapie der Heidelberger Schule“ zu einem neuen Modell vereint werden? In der Stellungnahme der DGSF von 2003 kommt zweimal das Wort „unver­einbar“ vor, und in diesem Punkt bin ich mit ihnen einer Meinung.

Aber war nicht ausdrücklich auch von „phänomeno­logischen Konzepten“ die Rede? Vorsicht! Da steht: „phänomenologische Konzepte aus psycho­dynamischen sowie körper­orientierten Therapie­traditionen“. Der philosophische Begriff der Phänomenologie ist immer für Missver­ständnisse gut. Grob gesagt gibt es zwei Richtungen. Die eine beschränkt sich auf das, was uns die unmittel­bare, sinn­liche Anschauung der Erscheinungen mitteilt. Der anderen geht es um übersinnliche Wahr­nehmung von etwas Verborgenem hinter diesen Erscheinungen. [4] Hellingers Verständnis von Phänomenologie zählt zu der zweiten Lesart, wo sich ein verborgenes Wesentliches ent­birgt. Und was bedeutet Phänomenologie in der Psycho­dynamik? Eindeutig die erste Lesart! Denn dort geht es um typische Krankheitsbilder!

Mit diesem Modell führt Drexler (und mit ihr Lier und Lier) einen Begriff von Phänomeno­logie in die Aufstellungsarbeit ein, der etwas völlig anderes meint als Hellingers Ansatz und mit diesem absolut unvereinbar ist.

Auch hier wird Hellinger nicht erwähnt, nicht einmal in dem Sinn, dass man sich von ihm ab­grenzen wolle und ein anderes Verständnis von Phänomenologie bevorzuge. Der Begriff wird einfach umgedeutet. Für mich sieht das nach einem Revanche-Foul aus: „Hellinger hat uns den Begriff systemisch streitig gemacht. Dafür schreddern wir jetzt seine Begriffe Haltung und phänomenologisch.“

Lier & Lier fassen zusammen: „Das zeigt, dass Aufstellungen sowohl in einer systemischen Haltung als auch in jeder anderen Haltung ausgeübt werden können.“ Ach ja, zeigt es das? Wenn es so wäre, warum muss dann Hellingers Ansatz verleugnet werden? Nebenbei bemerkt sagen Lier & Lier in ihrem Text nichts, aber auch gar nichts darüber aus, worin jene systemische Haltung denn besteht. Können sie nicht, oder wollen sie nicht?

Ethik, humanistische

Wir kommen zur dritten Prämisse für die Qualitätssicherung, zur Ethik. Dies ist natürlich ein weites Feld. Was haben uns Lier & Lier dazu mitzuteilen? Es sind nur fünf Sätze. Der erste lautet „Eine weitere Einflussgröße auf die Qualität von Aufstellungen ist das Einnehmen einer übergeordneten Haltung, die alle Therapieschulen und Methoden mit einschließt.“  Der Satz wäre verdaulicher, wenn er inhaltlich auf den Punkt kommen würde. Der Sinn der Aussage ist aber verständlich.

Ist er aber auch zutreffend? Ist es so, dass Aufstellungen eine „Therapieschule“ darstellen?
In meinen Augen nicht. Aber bitte, das kann man so sehen. Nehmen Aufsteller eine über­ge­ordnete Hal­tung ein, eine, die sie etwa mit Tiefenpsychologen und Verhaltenstherapeuten verbindet? Nicht, dass ich wüsste. Der nächste Satz bezeichnet, was diese „übergeordnete Haltung“ sein soll: „Sie kann mit dem Begriff ‚huma­nistische Ethik’ um­schrieben werden.“

Und was heißt das? Gibt man bei Google als Suchbegriffe humanistisch + Aufstellung ein, zeigt sich, dass es tat­sächlich einige Aufsteller gibt, die unter „humanistisch-systemische Psychotherapie“ oder ähn­lichen Kombinationen firmieren. Und das sind, wie es scheint, keineswegs nur klassische Systemiker, sondern auch solche, die mit Familienstellen nach Hellinger arbeiten, auch wenn sie seinen Namen nicht erwähnen. Allerdings, als ich bei Google die Begriffe Hellinger + humanistisch eingab, stieß ich sofort auf den notorischen Hellinger-Hasser Colin Goldner, welcher in der humanistischen Giordano-Bruno-Stiftung und in der Humanistischen Union sein Unwesen treibt. Ist das ein bizarrer Zufall?

Keineswegs! Beide Organisationen sind aus einer dezidiert atheistischen Haltung heraus Vor­posten im Kampf gegen die Anthropo­sophie, den Dalai Lama und eben Hellinger. In dieser anti-religiösen Haltung liegt die Gemeinsamkeit von klassischen Systemikern und solchen politischen Propagandisten wie Goldner. Um ein Beispiel zu geben, zitiere ich kurz aus dem „humanistischen ‚Glaubensbekenntnis’“:

„Humanisten kennen keine unantastbaren Propheten, Priester oder Philosophen, die den Zu­gang zur ‚absoluten Wahrheit’ besitzen. Woran also ‚glaubt’ ein Humanist? Im Grunde ist die Antwort bereits im Begriff ‚Humanismus’ enthalten: Humanisten glauben an den Menschen – genauer: an die Entwicklungsfähigkeit des Menschen.[5]

Zum Vergleich: „Nicht Bert Hellinger als normensetzender Guru, sondern ein breiter wissen­schaftlicher Diskurs von Fachleuten innerhalb der Systemischen Therapie definiert die Me­tho­dik der Familienaufstellung.“ (Vorstand der DGSF, Stellungnahme der DGSF zum Thema Familienaufstellungen, 2003) „Das Finden von ‚Wahrheit’ ist nicht das Ziel systemischer Therapie“, während Hellinger „die Vorstellung, über eine Wahrheit verfügen zu können, an der eine Person mehr teilhaftig ist als eine andere“ vorgeworfen wird. (Systemische Gesellschaft, Deutscher Verband für systemische Forschung, Therapie, Supervision und Beratung e.V, 2002) Et cetera pp.

Was die systemischen Kritiker genau damit meinen, dass Hellinger sich vorstelle, über eine Wahrheit zu verfügen, die anderen nicht gleichermaßen offenbar ist, muss hier nicht ergründet werden. Eine Konkretisierung dieses Vorwurfes habe ich nirgendwo gefunden, was nicht heißt, dass sie nicht möglich wäre. Hier nur so viel: Wer sich tiefer mit diesem Konflikt beschäftigt, wird immer wieder auf eine anti-religiöse Unterströmung bei den Hellinger-Kritikern stoßen.

Ethik, alte Kampf-Parole

Bevor wir näher auf die Ethik eingehen, möchte ich eine grundsätzliche Frage stellen: Wozu? Wer braucht das? Muss Aufstellungsarbeit „ethisch“ sein? Hat dieser Begriff je eine Rolle in der Aufstellungsarbeit gespielt? War je die Rede davon? Ja, das war es! Und zwar in der gerade zitierten Stellungnahme der DGSF von 2003. Darin heißt es:

Die reale Praxis der Familienaufstellungen ist zu einem nicht geringen Teil als kritisch, ethisch nicht vertretbar und gefährlich für die Betroffenen zu beurteilen.“ Weiter: „Führende Repräsentanten der Familienaufstellung übernehmen nicht nur die Verantwortung für ihr eigenes methodisches Vorgehen, sondern auch insofern, als sie auf unethisches und unverant­wortliches Verhalten von FamilienaufstellerInnen hinweisen und sich für Qualitäts­sicherung durch fundierte Fortbildung und Praxisevaluation einsetzen.“

Ohne auf die Vorhaltungen im Detail einzugehen, können wir feststellen: 1) Seit 20 Jahren bemühen sich „führende Repräsentanten der Familienaufstellung“ um Ethik und Qualitäts­sicherung, und noch immer ringen Lier & Lier darum, Vorschläge zu machen, wovon eigent­lich die Rede sei. 2) Der Vorwurf, „unethisch“ zu handeln, war von Anfang an ein Kampf­begriff der klassischen Systemiker gegen Aufsteller, die „nach Hellinger“ arbeiten sowie gegen Bert Hellinger persönlich. 3) Abgesehen von Verweisen auf Glaubenssätze wie das „Selbstver­ständnis, dass die Klientin oder der Klient jeweils Fachfrau oder Fachmann für die eigenen Ziele“ sei, sagen die Autoren nichts darüber, woraus ihr Ethik-Konstrukt denn bestehe.

Nur in einem Fall werden sie etwas konkreter, was sie eigentlich ethisch finden, bzw. in der negativen Abgrenzung gegen andere unethisch: „Familien­aufstellungen in Großgruppen mit dem Ziel des Publikums­effekts werden als un­ethisch ab­gelehnt.“(SG, 2002.) Ja, aufstellen „mit dem Ziel des Publikums­effekts“, das klingt nicht gut. Auf den zweiten Blick zeigt sich, dass es auch dieser Aussage erheblich an Genauigkeit fehlt:

1) Was genau sind „Groß­grup­pen"? Acht Teilnehmer? Dreißig? Hundert? Oder gar tausend, wie es bei Hellinger vorkam? Von welcher Zahl an wird es „unethisch“ – und warum?

2) Was genau meint hier das Wort „Publikums­effekt“? Hellinger sagte oft, wenn er vor gro­ßem Publikum auf der Bühne arbeitete: „Ich arbeite nie nur für einen einzelnen. Ich arbeite immer für die ganze Gruppe.“ Was hieß das? Es hieß zum Beispiel, dass alle etwas über seine Vorgehensweise lernen konnten, aber auch, dass jeder für sich inner­lich mitgehen und einen Wachstums­schritt auch für sich selbst vollziehen konnte. Auch das ist ein Publikums-Effekt. Ist das „un­ethisch“?

3) Was wären denn die Kriterien dafür, dass Aufstellungen ethisch wären? Ein therapeutisches Setting zu wählen, wie es in der kon­ventio­nellen Psychotherapie seit Freud üblich ist? Oder ein­fach das, was zur konstruktivistischen Ideologie passt? Ein objektives Kriterium dafür, was als ethisch anzu­sehen sei und das zu jeder Zeit und überall auf der Welt gültig wäre, gibt es eher nicht. Sich be­wusst zu machen, woher man seine eigenen Werte bezieht und wie wandel­bar sie sind, ver­langt ein hohes Maß an Selbstreflektion – ist das zu  hoch für diese Ethiker?

Auf wen zielt ihr Vorwurf eigentlich? Der Text jener Stellungnahme beginnt mit dem Satz: „In den letzten Jahren hat das ‚Familienaufstellen’ (nach Bert Hellinger) nicht nur in Fach­kreisen eine sehr kontroverse Diskussion ausgelöst.“ Das gibt einen gewissen Hinweis! Es geht um die Arbeitsweise an sich. Andererseits, wer hat denn schon „in Großgruppen“ aufgestellt?
Man kann es drehen und wenden wie man will, es geht um Bert Hellinger. Und wenn hier von „Publikumseffekt“ die Rede ist, dann ist sicher nicht gemeint, was Hellinger selbst dazu sagte.

In der Stellungnahme der Systemischen Gesell­schaft heißt es: „Systemische Therapie baut auf dem Konzept einer relationalen Wirk­lichkeit auf, die im gemeinsamen Dis­kurs in sozialen Systemen entsteht. Das Finden von ‚Wahrheit’ ist nicht das Ziel systemischer Therapie.“ Auf jeden Fall kann ich bestätigen, dass die Autoren dieses Statements in der Kontroverse mit Hellinger an Wahrheitsfindung nicht weiter interessiert waren. Ein „gemeinsamer Diskurs“ ist wohl in der therapeutischen Beziehung vorge­sehen, aber nicht in der Auseinandersetzung mit Hellinger. Wenn sie je einen Dialog mit Bert Hellinger über diese Frage geführt hätten, ich denke, dann wüsste ich davon.

Der Vorwurf der „unethischen“ Arbeit „in Großgruppen mit dem Ziel des Publikumseffekts“ ist so voller Unschärfen, dass jeder kritische Leser sieht: Hier wird nicht klar gesagt, um was es eigentlich geht. Jedes schlichte Gemüt hingegen ist in der Lage, den Satz so zu übersetzen, wie er wohl gemeint ist: „Hellinger macht auf der Bühne eine große Show vor Hun­der­ten Leuten, um sich selbst wichtig zu machen.“ Nein, das steht da nicht. Aber sollen wir wirklich annehmen, es wäre nicht so gemeint gewesen? Wie denn dann?

Nein, da ist nichts anderes gemeint. Das ist Verleumdung, üble Nachrede. Und worum ging es noch mal in diesem Satz? Ach ja, um ethisches Verhalten. Diese Leute haben tatsächlich die Stirn, andere über Ethik zu belehren!

Bert Hellinger und die Ethik

Kürzlich las ich einen Artikel von Alemka Dauskardt über die „heiligen Kühe der Ethik“. Darin klärte sie zunächst kurz, wovon überhaupt die Rede sei: „Ethik oder moralistisches Denken ist ein Zweig der Philosophie, der sich mit Konzepten für ‚richtiges’ und ‚falsches’ Verhalten befasst. Sie ist Ausdruck des Glaubens, dass es ein uni­verselles Gewissen gäbe, das uns hilft, 'richtig' von 'falsch' zu unterscheiden. 'Profes­sionelle Ethik' bedeutet, diese Haltung und diese Moral auf ein bestimmtes Gebiet anzuwen­den, in dem es stets eine Gruppe von Menschen gibt, die definiert, was 'gute' und 'schlechte' Praxis ist und entsprechend sanktio­niert.“ [6]

Was die Ethik in der Aufstellungsarbeit betrifft, hat Alemka Dauskard eine klare Meinung: „Für Ethik ist in der Aufstellungsarbeit kein Platz!“ Als ich diesen Satz das erste Mal las, erschrak ich ein wenig. Und das wiederum erstaunte mich, denn in der Sache bin ich mit der Autorin völlig d’accord. Aber kann man das nicht etwas taktvoller formulieren, so dass sich all jene, die anderer Meinung sind, nicht vor den Kopf ge­stoßen fühlen? Nun, vielleicht ist es langsam an der Zeit, mit solchen Rücksichtnahmen Schluss zu machen.

Warum Ethik in der Hellinger-Arbeit keinen Platz hat, ist sicher nicht jedem klar und sollte erläutert werden. In seinem Vortrag Natürliche Mystik erläuterte Bert Hellinger sein Konzept der „Bewegungen des Geistes“. Dazu bezog er sich auf Aristoteles’ Konzept des ersten Bewegers:

Dieser Geist denkt, und was er denkt kommt damit ins Dasein. Es gibt nichts, was da ist und sich bewegt, was nicht von dieser geistigen Kraft gedacht ist. Was heißt das jetzt? Es heißt: Alles ist richtig. Es ist gewollt, wie es ist, ohne Unterschied. Für diese geistige Kraft gibt es kein Gut und kein Böse, kein Richtig und kein Falsch. Keine Täter, keine Opfer. Nichts von dem, nach dem wir unsere Welt einteilen. Und wenn wir jetzt in Einklang kommen mit dieser Bewegung, fallen für uns alle diese Unterscheidungen weg, völlig weg. Was hört dann auf, wenn wir das ernst nehmen? Jede Religion! Jede Moral hört auf.“ [7]

Hier könnte man einwenden: „Das war 2008, als Hellinger sich schon von seinem früheren sys­temi­schen Selbstverständnis verabschiedet hatte.“ Ja, es gab einen Bruch in Hellingers Selbstverständnis. Seit 2003 sprach er von seiner Arbeit als „angewandter Philo­sophie“ (Vortrag, Bert Hellinger, Das Familien-Stellen: eine Standortbestimmung). Zuvor hatte er nicht Aristo­teles referiert und nicht von einem schöpferischen Geist gesprochen. Doch auch zuvor hatte Hellinger Ereignisse oder Personen in Aufstellungen nie moralisch bewertet. Ihm ist vorgeworfen worden, dass er zum Beispiel Inzest nicht moralisch betrachtete, sondern nur nach der Wirkung auf die Beteilig­ten. Stellvertreter von Mördern hatte Hellinger in den frühen Jahren zwar vor die Tür geschickt, aber auch das war kein mora­lisches Urteil über die Mörder.

Schon Mitte der 90er Jahre hatte Hellinger seine Einsichten in die Funktion des Gewissens ver­­öffent­licht [8]: Dass die Unterscheidung von gut und böse, die das Gewissen uns vermittelt, nur innerhalb einer Gruppe (Familie) gültig ist, aber nicht allgemein als natürliche „über­geordnete Haltung“. 2013 sagte er dazu in einem Vortrag: „Ich habe viel über das Gewissen und seine Wirkungen gesagt und geschrieben. Aber es hat nur wenig Wirkung. Darüber wunderte ich mich. Ganz wenige, die Familienstellen machen, haben begriffen, was das gute Gewissen bedeutet und woher es kommt.“ [9]

Mir persönlich blieb viele Jahre unklar, was das Gewissen für die Aufstellungsarbeit bedeutet. Später verstand ich: Eine vom Gewissen geleitete Wahrnehmung ist keine phänomenologische Wahrnehmung. Sich einzustimmen auf die Bewegungen des Geistes, bedeutet nichts anderes als phänomenologische Wahrnehmung (ebd. S. 36). Phänomenologische Aufstellungsarbeit nach Hellin­ger ist gewissenlos, muss es sein. Sie ist ohne Moral und ohne Ethik. Es ist genau so, wie Alemka Daus­kardt schrieb: „Für Ethik ist in der Aufstellungsarbeit kein Platz!

Der größere Kontext

Alemka Dauskardt schrieb: „Aufstellungen sind eine Erkenntnis- und Entwicklungsmethode für die neue, nicht nur postmoderne, sondern auch post-materialistische Welt, die wenig Ähnlichkeit mit der alten hat. Die Psychotherapie ist Teil jener alten Welt.“ Solches Denken ist nicht allgemein geläufig, auch nicht unter allen Aufstellern, die „nach Hellinger“ arbeiten.

Hellinger selbst hat nicht von einer post­modernen oder auch post­materia­listischen Welt gesprochen oder einer alten und einer neuen Welt. Er hat sich sogar zurück­gehalten, von der Auf­stellungsarbeit als Methode zu sprechen, geschweige denn Entwicklungsmethode. Aber er hat durchaus vom phänomenologischen Erkenntnisweg [10] gesprochen. Ihm hat genügt zu sagen, dass dieser Weg uns „in eine andere Weite“ führe, ohne zu benennen, wo dieser Weg herkommt und wo er uns hinführt. In der Tat können wir das nur ahnen.

Hier geht es mir um zwei Fragen. Erstens: Was bedeutet „post­materialistische Welt“, und was wäre (im Gegensatz dazu) die „alte Welt“? Zweitens: Wieso gehört Hellingers „Erkenntnis- und Entwick­lungsmethode“ zur neuen Welt, die Psycho­therapie hingegen zur alten?

Wie ich es verstehe, hat Dauskardt eine große Entwicklungs-Bewegung der Menschheit vor Augen. Innerhalb dieser großen Bewegung geht in unserer Zeit die Epoche der materialistischen Moderne allmählich zu Ende geht, während die nächste Epoche sich schon allmählich entfaltet. Was da neu entsteht, können wir noch nicht kennen, weshalb die Autorin es nur als „nach-modern“ und „neu“ bezeichnet. Das Leben verstehen wir rückwärts, leben müssen wir es vorwärts, ins Unbekannte hinein.

Die Epoche der (europäischen) Moderne beginnt mit dem Spätmittelalter. Sie ist geprägt von einer Entfaltung eigenständigen Denkens, naturwissenschaftlicher Forschung und technischer Entwicklung. Im Gegensatz zum allgegenwärtigen Gottesbezug der früheren Epoche war die neue ausschließend auf das bezogen, das in seiner materiellen Erscheinung beobachtbar und erfassbar ist. Auch die Humanwissenschaften entwickelten sich nach dem Paradigma der Naturwissenschaften und der Industrialisierung: Moderne Psychologie befasst sich nicht mehr mit einer (unsterblichen) Seele, sondern untersucht die Mechanik des „psychischen Apparates“. Und wenn der Apparat einen Defekt hat, repariert ihn die Psychotherapie.

Im Fortschritt dieser Entwicklung trat Nachdenken an die Stelle von Nachbeten, nahm eine humanistische Ethik die Stelle kirch­licher Moral ein. All dies war ein Fortschritt auf dem Weg der Menschheits-Entwicklung. Natürlich kann das nur ein relativer Fortschritt im Verhältnis zu dem sein, was vorher war. Die neue Intelligenz dieser Epoche reichte zwar aus, um alte religiöse Glaubens­sätze zu verwerfen, aber nicht, um ein neues Verhältnis zum Transzenden­ten oder Göttlichen zu begründen. Atheismus und Mate­rialismus wurden zum neuen, nicht weniger dogmatischen Glauben.

Die Moderne ist zwar, der Wortbedeutung nach, die neue Zeit schlechthin, aber die Entwicklung geht weiter. Die Naturwissenschaften selbst, namentlich die theoretische Physik, transzendieren ihre materialistischen Grenzen. Auf den Menschen bezogen hat Bert Hellinger mit dem „phänomenologischen Erkenntnisweg“ eine Vorgehensweise entwickelt, welche die bisherige Psychotherapie hinter sich lässt, und auch deren Orientierung an der Medizin.

Diese kurze Skizze sollte genügen um eine Idee zu vermitteln, weshalb Dauskardt die Psychotherapie, einschließlich der der deutschen Systemiker, als „Teil jener alten Welt“ ansieht, also der modernen, materialistischen, und die Hellinger-Arbeit als Teil oder Wegbereiter einer neuen, postmaterialistischen Welt oder Menschheits-Epoche. Beide folgen unterschiedlichen Paradigmen und orientieren sich an unterschiedlichen Bezugsgrößen.

Lier & Lier unternehmen einen Versuch zu klären, an was sie sich eigentlich orientieren. Wie bescheiden dieser Versuch auch geraten ist: Damit sind sie uns, die irgendwie „phänomenologisch“ oder „nach Hellinger“ arbeiten, voraus. Solange Bert Hellinger lebte, personifizierte er die Orientierung in seiner Arbeit. Für viele verschwand er schon 2007 aus dem Blickfeld, sie wissen kaum etwas über ihn in der Zeit danach. Für uns alle ist er nun gestorben, nicht mehr da. Damit haben wir eine neue Freiheit und eine neue Verantwortung für diese Arbeit.

Systemische Werte?

Eingangs sagte ich über den Lier’schen Katalog der systemischen Qualitätsmerkmale, er erin­nere mich erstens an den Katalog der Vorwürfe, die von den systemischen Therapeuten seiner­zeit gegen Bert Hellinger formuliert wurden. Zweitens wirke er auf mich „wenig begründet und eher zufällig“, einfach eine kommentierte Aufzählung all dessen, was sie als Aufsteller gewohn­heits­mäßig zu tun pflegen. Und selbst das steht in der Tradition jener alten Vorwürfe. Fritz B. Simon, ein prominenter systemischer Hellinger-Kritiker, sagte dazu: „Ich verurteile Hellingers Art zu arbeiten, weil er Dinge tat, die allem widersprachen, was stillschweigender Konsens in der systemischen Szene war.“ [11]

Die bemerkenswerte Information liegt in der Formulierung „stillschweigender Konsens“. Dass sie Hellingers Arbeitsweise nicht mochten, wussten viele Systemiker. Erklären jedoch, warum das, was Hellinger machte, nicht systemisch sein kann, ist immer noch schwer. Simon: „Bei meiner Kritik ging es um Grundwerte von Konstruktivismus und System­theorie, die gerade nicht normativ sind und keinem zubil­li­gen, willkürlich Wahrheiten zu ver­künden.“

„Konstruktivismus und Systemtheorie“ sind also nicht normativ – außer dass sie sich (in Gestalt ihres Sprechers Simon) anmaßen, anderen „zuzubilligen“, was sie „verkünden“ dürfen und was nicht. Die Behauptung, Hellinger habe „willkürlich Wahrheiten verkündet“, gehört zum Standard-Repertoire systemischer Anti-Hellinger-Rhetorik. Doch was ist daran wahr? Das ist schwer festzustellen, weil niemals konkretisiert wurde, wovon eigentlich die Rede sei. Insofern kann man auch schwer sagen, ob Hellinger diese „Wahrheiten“ wirklich willkürlich verkündet hat, oder ob er vielleicht gute Gründe dafür hatte.

Gibt es tatsächlich einen Kanon der „Grundwerte von Konstruktivismus und System­theorie“? Ich wusste gar nicht, dass die Systemtheorie über­haupt „Werte“ ver­tritt! Von jeder Theorie würde ich erwarten, dass sie einen Sachverhalt zu erklären versucht. Werte zu vertreten ist hingegen Sache der Religionen, beziehungsweise der Ideologien, welche den vakanten Platz der alten Religionen einnahmen. Wenn es bei der System­theorie um die von Niklas Luhmann geht – von dem habe ich mal gelesen, „Werte versprächen viel, aber hielten nichts.“ [12]

Als ich die Lier’schen „Qualitätsmerkmale“ ein erstes Mal las, dachte ich: „Hmm, ja, das kann man machen. Man kann es aber auch lassen.“ Beim wiederholten Lesen wurde mir klarer: Es passt einfach nicht. Es passt nicht zur Hellinger-Arbeit. Es kommt mir vor, als bewegten wir uns in verschiedenen Welten. In beiden Welten gibt es Ähnliches, nämlich Aufstellungen. Es gibt offenbar auch Einigkeit in der Annahme, dass Vorgehensweise und Haltung dabei entscheidend seien. Aber reden wir dabei vom gleichen Sachverhalt? Gibt es da ein gemeinsames Verständnis? Offenbar nicht.

Es führt leider nichts darum herum, auf die eingangs erwähnte „Unklarheit“ um den Begriff „systemisch“ einzugehen. Lier & Lier:

Damals wurde die Arbeitsweise [Aufstellungen] nicht allein als eine Methode angesehen, sondern mit der Vorgehensweise Hellingers gleichgesetzt. Einige systemische Therapeuten fanden, dass diese Art des Vorgehens mit ihrer systemischen Haltung nicht kom­patibel war. Da der Begriff systemisch nicht geschützt ist und damit von jedem anders definiert werden kann, lässt er sich auch folgendermaßen deuten: als Beschreibung, dass hier mit (Familien-) Systemen und ihren Mitgliedern gearbeitet wird. Diese begriffliche Unklarheit ist bis heute zu finden. Im Internet werden inzwischen vorrangig die Wortverbindungen systemische Auf­stellungen oder auch Systemaufstellungen benutzt. Damit ist weiterhin für Interessierte nicht erfassbar, ob der Anbietende mit einer systemischen Grundhaltung Aufstellungen durchführt, ob damit ausgedrückt werden soll, dass hier Systeme aufgestellt werden, oder ob sogar beides gemeint sein könnte.“(Lier/Lier, S. 181)

Den Autoren zufolge wären also Systemaufstellungen möglich, in denen nicht Systeme auf­gestellt werden, der Aufsteller aber aus einer „systemi­schen Grundhaltung“ heraus auf­stellt. Das ist schon erstaunlich. Leider geben Lier & Lier immer noch keinen Hinweis, worin denn diese „Grundhaltung“ bestehe. Ihre Leser erfahren nur, dass diese „Grund­haltung“ einigen systemischen Therapeuten mit Hellingers Vorgehens­weise „nicht kom­patibel“ schien.

Ein prominenter Systemiker erklärte mir den Streit um den Begriff systemisch einmal so:
Uns ging es so wie jemandem, der eine braune, koffeinhaltige, anregende, süße Limonade auf den Markt gebracht hat und sie Coca Cola genannt hat. Und dann bringt jemand eine gelbe, koffeinfreie und stattdessen mit Schlafmittel versetzte, saure Limonade auf den Markt und nennt sie auch Coca Cola. Jeder kann meinetwegen jedes Gebräu, das ihm Spaß macht, unter die Leute bringen, aber er soll es nicht mit einem Namen versehen, der mit mir bzw. dem von mir vertriebenen Saft verbunden ist. So einfach ist das. Mir ist im Prinzip vollkommen egal, was Bert Hellinger macht. Aber wenn er den Eindruck erweckt, das sei dasselbe, was ich – der ich das eher so genannt habe - mache, dann scheint mir eine Verdeutlichung der Unterschiede wichtig.“

Witzigerweise beruft sich dieser Kritiker auf das, was Hellinger die „Ordnung des Vorrangs nach dem Alter“ (bzw. nach der Dauer der Zughörigkeit) nannte, was dieselben system­ischen Kritiker als „‚gottgewollt’ erscheinende Norm“ verlästerten. Aber sie haben Recht damit, in mehr­facher Hinsicht sogar. „Gottgewollt“ ist ein großes Wort, aber die von Hellinger gefun­denen Ordnun­gen, nach denen Systeme funktionieren, sind vorgegeben, woher auch immer. Sie sind nicht von Menschen gemacht. Sie sind nicht verhandelbar. Sie sind kein „Konzept einer relationalen Wirklichkeit, die im gemeinsamen Diskurs“ (Stellungnahme der Systemischen Gesellschaft,2002) entsteht. Darum ist Hellingers Konzept der Ordnungen auch bei vielen Systemikern sehr unbeliebt.

Zweifellos haben die systemischen Familientherapeuten das ältere Recht an dem Begriff. Andererseits hat Hellinger jene Gesetzmäßigkeiten gefunden, nach denen Systeme funktio­nieren, entdeckt und gefunden, wie man dieses Verständnis in Aufstellungen anwendet. Und das lässt es für ein großes Publikum einleuch­tend erscheinen, Hellingers Arbeit für systemisch zu halten, auch wenn es manchen Sys­temiker gegen ihre „systemische Haltung“ geht.

Welches Kriterium sollte nun in der Aufstellungsarbeit das größere Gewicht haben? Ein Di­lemma! Was mich persönlich betrifft, sehe ich das systemische Familienstellen nur als einen Teil der Auf­stel­lungsarbeit nach Hellinger, und ich könnte auf die Bezeichnung „systemisch“ ohne großes Herzeleid verzichten. Es scheint aber so, dass außer in Deutschland überall auf der Welt die Begriffe „systemisch“ und „nach Hellinger“ überwiegend synonym verwendet werden. Man mag das bedauern oder auch nicht, aber es ist nicht zu ändern.

Lier & Lier lösen dieses Dilemma für sich, indem sie erst sagen, es gäbe da nach wie vor eine Unklarheit um den Begriff „systemisch“, und dann einfach fortfahren, als ob sie das Problem mit diesem Hinweis schon gelöst hätten. Indem sie Hellingers Ansatz komplett ignorieren, bleiben bei ihnen als „systemi­sche Merkmale der Prozessqualität“ nur jene, die „von den Ver­­bänden (DGSF, Systemische Gesellschaft) beschrieben werden“, also von den klassischen systemischen Famili­entherapeuten. Das kann man so hinnehmen, muss man aber nicht.

Können diese „Qualitätsmerkmale“ systemisch sein?

Die Kritik an der Lier’schen Merkmale-Sammlung hat also zwei Ebenen. Zum einen gibt es eine immanente Kritk, in der ich die eigenen „systemischen“ Ansprüche der Autoren als Messlatte für ihre Ergebnisse nehme. Zum anderen erlaube ich mir, ihre Vorschläge aus der Hellinger-Perspektive zu betrachten.

Um zu bestimmen, was systemisch sei, nennen Lier & Lier eigentlich nur jene „Grund­haltung“, die inhaltlich unbestimmt bleiben. Ich kann nirgendwo erkennenn, dass Lier & Lier aus einem Ver­ständnis dieser Haltung dazu kämen, einzelne Arbeitsschritte als Zeichen syste­mischer Qualität zu bestimmen, sondern dass sie umgekehrt ihre (woher auch immer abge­leiteten) gewohnten Vollzüge auflisten und deren Summe dann als spezifisch systemische Haltung ausgeben. Solange die Autoren nicht erklären, wodurch eine genuin systemische Haltung bestimmt ist, solange kann dieses Argument keinen Bestand haben.

Es gäbe noch ein anderes Kriterium, das Lier & Lier nicht erwähnen, nämlich der Bezug auf die Systemtheorie. Fritz B. Simon ist da sehr klar: „Systemisch heißt für mich, dass ich die Systemtheorie nutze, um Hypothesen über die Ent­ste­hung beobachtbarer Phäno­mene zu konstruieren. (...) Wir reden hier von der neueren sozio­logischen Systemtheorie, die soziale Systeme als Kommunikationssystem betrachtet. (...) Den Begriff systemisch für ein Methoden­repertoire zu verwenden, ist zwar populär, aber unsinnig. Alle Methoden und alle Werkzeuge, die zum Ziel führen, sind, salopp gesagt, ‚systemisch’.“ [13]

Wie passen dazu die „systemischen Qualitätsmerkmale“ von Lier & Lier? Die zählen Transparenz (Erklärung der Vorgehensweise) und Gruppendynamik auf (Übungen, die den Kontakt unter Teilnehmern fördern), Freiwilligkeit der Rollenübernahme (Teilnehmer, die als Stellvertreter ausgewählt werden, müssen das nicht annehmen, wenn sie nicht wollen), Überprüfung des angestrebten Ziels und Verankerung neuer Sichtweisen, Entlassung der „Repräsentanten“ aus den Rollen, Nachbetreuung.

Stellen diese Maßnahmen wirklich systemische Qualitätsmerkmale dar? Was kann der Um­stand, ob eine sogenannte Nachbetreuung vereinbart wird oder nicht, über die Qualität einer Aufstellung aussagen? Lier & Lier haben (ich muss es leider schon wieder sagen) nirgendwo erklärt, was sie unter Qualität verstehen. Und schon gar nicht erklären sie, was an diesen ein­zelnen „Merk­malen“ spezifisch systemisch wäre.

Wenn wir Simons Kriterium anlegen: „Alles, was zum Ziel führt, ist systemisch“, sofern es von jemandem angewendet wird, der in den Kategorien der Systemtheorie denkt, dann würde ich ihren Qualitätsmerkmalen Auftragsklärung mit Ziel- und Lösungsorientierung zugestehen, dass sie in diesem Sinn systemisch sind. Der ganze Rest kollidiert zwar nicht mit diesem Kriterium, ist aber ganz unspezifisch. Grundsätzlich frage ich mich: Wenn es, wie Simon vertritt, unsinnig ist, Methoden und Werkzeuge als systemisch zu bezeichnen, wie können dann einzelne Arbeitsschritte oder Werkzeuge systemische Qualitätsmerkmale sein?

„Qualitätsmerkmale“ von was eigentlich?

Was dürfen wir erwarten, wenn jemand ankündigt, über Qualitätsmerkmale in Aufstellungen zu schreiben? Ich sehe drei Möglichkeiten:
a) Jemand, der verschiedene Aufstellungsweisen kennt, erläutert, woran er die unterschiedlichen Eigenarten/Qualitäten in den verschiedenen Vorgehensweisen festmacht.
b) Jemand erklärt, warum er meint, dass Aufstellungen bestimmte Eigenschaften/Merkmale aufweisen müssten, um von ihm/ihr als „gut & richtig“ eingeschätzt zu werden.
c) Jemand beschreibt das, was er (zufällig) kennt und gut findet und sagt: „Das hat Qualitität!“
Bei Lier & Lier haben wir es offenbar mit dem Modell „c“ zu tun – dem mit der denkbar aschlichtesten Qualität.

Gleich zu Beginn war mir aufgefallen, dass die Qualitätskriterien, die Lier & Lier an ihrem Fallbeispiel demonstrieren, seltsam zufällig wirkten, fast beliebig. Nach einer Weile wurde mir klar, dass es sich durchwegs um therapeutische Maßnahmen vor, während und nach der Auf­stellung handelte. Es hat noch länger gedauert, bis ich erkannte, dass sie über die Auf­stellung als solche, um die es in ihrem Beispiel geht, so gut wie nichts mitteilen.

Einmal, auf Seite 189, wird eine Intervention beschrieben: „Die Aufstellungsleitung schlägt einen Lösungssatz vor. Der Stellvertreter kann ihn nicht aussprechen. Die Leitung hört, was der Stellvertreter sagen würde und formuliert den Satz um.“ Wer schon einmal erlebt hat, wie ein Aufsteller gegen den Widerspruch eines Stellvertreters darauf besteht, dass sein Satz nachgesprochen werden müsse, der wird zugeben: „Ja, was Lier & Lier da beschreiben, das wäre ein Kriterium für gute Aufstellungsleitung.“

Aber das war’s auch schon. Der Rest, ich sag es mal etwas despektierlich, ist therapeutisches Brimborium. Als ich zuerst jenes Statement von Fritz B. Simon las, „Systemisch heißt für mich, dass ich die Systemtheorie nutze. Alle Methoden und alle Werkzeuge, die zum Ziel führen, sind, salopp gesagt, ‚systemisch’“, war ich zunächst konsterniert. Aber je länger ich darüber nachdachte, desto sinnvoller fand ich diese Aussage! Jede Aufstellung hat einen Kern, bestimmt durch die geistige Ausrichtung des Aufstellers, nennen wir es Philosophie, Theorie oder sonst wie. Was Lier & Lier auflisten, ist durchweg äußerliches Beiwerk. Darum wirkt es auch so zufällig.

Unter ihren Qualitätskriterien befinden sich zum Beispiel die Formulierung eines Zieles; die Bezeichnung eines Kriteriums, an dem ich merken würde, dass ich dieses Ziel erreicht habe; Verankerung und Reframing. Das kenne ich alles noch vom NLP! Ist das etwa genuin systemisch? Wer weiß, wo es ursprünglich herkommt? Bandler & Grinder haben das NLP ja zusammengesetzt aus „Werkzeugen, die zum Ziel führen“, Werkzeugen ganz unterschiedlicher Herkunft. Ich finde es jedenfalls reichlich kühn, solche Werkzeuge aus dem NLP (und wer weiß, wo der Rest herkommt) als „systemische Qualitätsmerkmale“ zu verkaufen.

Fast alle Merkmale, die Lier & Lier auflisten, sind selbst in ihrem eigenen Beispiel äußerlich. Es sind Elemente ihres persönlichen therapeutischen Werkzeug-Koffers, völlig unspezifisch für die Aufstellungsarbeit. Ob diese Werkzeuge (im Sinn des Wortes „vor Hellinger“) an sich „systemisch“ sind oder sein können, mögen andere beurteilen, die mehr davon verstehen. Dann wären sie aber systemische Qualitätsmerkmale bei der Ausführung von Aufstellungen. Merkmale von Aufstellungen sind sie nicht. Dass Aufstellungen so verlaufen wie diejenige, auf die sich Lier & Lier in ihrem Beispiel beziehen, ist nur eine Möglichkeit von vielen.

Mir hat eine Frau erzählt, wie sie sich bei einem Seminar neben Hellinger gesetzt habe. Beide schlossen sie die Augen, haben dabei aber nichts gesprochen, nur still nebeneinandergesessen. Und auf einmal lief in ihrem Kopf eine Aufstellung ab. Ich hatte schon ähnliche Arbeiten von Hellinger beobachtet, bei denen er nach einer Weile Schweigen die Person neben sich fragte: „Okay?“, und der andere nickte, bedankte sich und ging. Im Fall dieser Frau machte Bert aber noch eine Aufstellung mit Stellvertretern auf der Bühne, weiterhin ohne sie nach ihrem Anliegen zu befragen. Sie erzählte mir später: „In dieser Aufstellung lief genau das ab, was ich vorher schon innerlich gesehen hatte.“

Hellinger war schon ein besonderer Aufsteller. Aber jeder Aufsteller kann eine Aufstellung be­ginnen, ohne vorher das Anliegen zu erfragen. Er nimmt einfach einen Stellvertreter für die Person, um deren Anliegen es geht, und lässt sich von den Mitteilungen (in Worte gefasst oder einfach als Bewegungen) leiten, wie es weitergeht. Und wenn es Anzeichen gibt, dass etwas Wichtiges in Bewegung gekommen ist – zum Beispiel ein entspanntes Aufatmen beim Fall­ein­bringer – kann er die Aufstellung beenden.

Es ist nicht gesagt, dass dies zwangsläufig eine sehr gute Aufstellung wird, aber ich habe schon viele gute Aufstellungen dieser Art erlebt. Wieso gut? Weil sie etwas in Bewegung gebracht haben, was vorher erstarrt war, oder weil sich etwas zeigen konnte, das gesehen werden musste. Und wo bleiben all die Lier’schen Qualitätsmerkmale? Und braucht sie jemand?

Lob & Dank

Die von Lier & Lier angebotenen konstruktivistisch-systemischen Kriterien sind zwar unklar, aber es ist immerhin ein Versuch. Jeder einzelne Punkt, den sie nennen, bietet Anlass zu vertieftem Nachdenken. Dafür gebührt ihnen Respekt und Dank. So unreflektiert und bruchstückhaft ihr Vortrag ist – selbst damit sind sie uns phänomenologischen Aufstellern noch voraus! Auch bei uns gibt es kaum mehr als einen „stillschweigenden Konsens“ darüber, was „Aufstellen nach Hellinger“ bedeutet.

Gibt es nicht Merkmale, an denen man festmachen kann: „Das passt zu einer phänomeno­logi­schen Haltung, und das nicht“? Wäre es sinnvoll, solche Merkmale zur Hand zu haben? Un­abhängig von der vorliegenden Auseinander­setzung habe ich vor kurzem begonnen, Stich­worte zu der Frage zu sammeln, was in der Aufstellungsarbeit nach Hellinger eigentlich es­sen­tiell sei, also maßgeblich und unver­zichtbar. Bis jetzt enthält meine Hitliste ganze sie­ben Punkte, meist aphoris­tische Sätze von Hellinger. Nein, das Buch Grund­risse der Aufstel­lungs­arbeit nach Hellinger ist noch nicht geschrieben... aber es ist in Arbeit.

Die Auseinandersetzung mit dem Lier’schen Vorstoß kann bei einer solchen Klärung helfen. So nennen sie es zum Beispiel ein Qualitätsmerkmal, die Gruppe darüber aufzuklären, dass mit der Auf­stellung „ein ‚inneres Bild’ aufgestellt wird.“(Lier/Lier, S. 183) Ob das jemals wahr sein kann, mag dahin gestellt sein. Für die phänomenologische Vorgehensweise ist diese Behauptung definitiv falsch und unerträglich. In diesem Punkt kann es keinen Kompromiss geben, kein: „Kann man machen. Kann man aber auch lassen.“

Wer gesammelt auf­stellt, ist in der Regel selbst davon überrascht, was für ein Bild er gerade aufgestellt hat. Das ist kein nach außen gestülptes „inneres Bild. Wo immer es her­kommt, es kommt nicht aus dem Denken des Fall-Einbringers. Und wo wir gerade dabei sind: Gesam­melt aufstellen ist ein Qualitätsmerkmal der phäno­meno­logischen Vorgehens­weise, vielleicht das entscheidende!

Dort spricht auch wenig dafür, die Stellvertreter von den Klienten selbst auswählen zu lassen. Es gibt auch andere Vorgehensweisen, die den Vorteil haben, dass jene „inneren Bilder“ dort bleiben, wo sie sind, also im Kopf des Falleinbringers, während die Stellvertreter frei bleiben, den Impulsen zu folgen, die sie von woanders herbekommen – sagen wir der Einfachheit halber: aus dem „wissenden Feld“.

Erst am Ende ihres Artikels benennen Lier & Lier, wofür ihre Sammlung von Merk­malen dienen soll: „Anhand dieser Qualitätskriterien kann eine systemisch arbeitende Aufstellungs­leitung ihre eigene Haltung und ihre Vorgehensweise reflektieren. Sie kann damit immer wie­der überprüfen, ob und wie sie in Resonanz mit den oben genannten Faktoren ist.“(Lier/Lier, S. 194) Was sonst das Gewissen unbewusst und stillschweigend erledigt – uns zu sagen: „Dies ist richtig, jenes ist falsch!“ – das würde also auf die Ebene bewusster Selbstkontrolle gehoben, ja einer bewussten und rituellen Selbstunterwerfung: „Die Mitglieder der Verbände verpflichten sich, die mit den Ethikrichtlinien verbundenen Werte einzuhalten.“(Lier/Lier, S. 181)

Selbst das bin ich bereit, einen Fortschritt zu nennen, denn es schafft eine neue Situation und eröffnet andere Möglichkeiten, sich dazu zu verhalten. Eine wäre, zu sagen „Ja, ja“ und etwas anderes dabei zu denken. Oder aber offen eine unterschiedliche Haltung einzunehmen und etwas ganz anderes zu formulieren, beispielsweise: „In meinem Verständ­nis gehört zu den Kern­elementen der Aufstel­lungsarbeit, einen offenen Raum dafür zu schaf­fen, dass all die Kräfte, die im Anliegen des Falleinbrin­gers eine Rolle spielen, sich zeigen dürfen, jenseits aller moralisch-ethischen Beschrän­kungen.“

Wäre ein entsprechender Katalog von Qualitätsmerkmalen für die Hellinger-Arbeit sinnvoll und hilf­reich? Vielleicht schon. Allerdings nicht um Maßregeln für Aufsteller zu erlassen und in falsch und richtig, ethisch oder unethisch zu unterscheiden. Aufstel­lun­gen offenbaren uns, was im Kontext eines bestimmten Anliegens der nächste, fällige Schritt wäre, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sie zeigen uns, was eine größere Bewegung, die von unserem persön­lichen Wünschen und Wollen nicht abhängt, von uns verlangt.

Klassischen Systemikern wird vielleicht übel, wenn sie dies lesen. Es tut mir leid, ich kann ihnen nicht helfen. Sie sind ihrem Glauben treu, und kein Argument könnte sie überzeugen. Die Konstruktivisten dürfen natürlich denken (oder „konstruieren“), was immer ihnen gut und richtig dünkt. Aber sie haben nicht das Recht zu entscheiden, was für alle Aufsteller richtig und gültig sei.

Noch einmal komme ich auf Alemka Dauskardts Unterscheidung, was wir mit der Aufstel­lungsarbeit eigentlich an­streben. Jede Selbstüberprüfung von Aufstellern, ob und wie sie in Re­sonanz mit den so genannten Qualitätsmerkmalen“ sind, führt immer zurück zu einem vorher schon da Gewesenen. Jede mögliche neue Qualität wird damit ausgeschlossen. Solche Qualitätsmerkmale dienen dazu, die „alte Welt“ zu konservieren. Wer in Unbe­kanntes hinein strebt, darf sich von Ethikrichtlinien und „Qualitätsmerkmalen“ nicht beschränken lassen.

„Wir alle schwimmen mit dem Strom“, erzählte Hellinger einmal. „Manche folgen dem Weg des Stromes willig, andere strampeln viel­leicht eine Zeit lang dagegen an. Aber letztlich schwimmen wir alle mit.“ Ein Zuhörer rief: „Aber was ist dann mit dem freien Willen?“ – „Der schwimmt auch mit“, antwortete Hellinger

 

[1] In: Kirsten Nazarkiewicz/Peter Bourquin, Essenzen der Aufstellungsarbeit. Praxis der Systemaufstellung. Göttingen 2019. Holger und Christiane Lier, Systemische Qualitätsmerkmale in Aufstellungen. S. 179-196

[2] Die systemische Psychotherapie Bert Hellingers, 2) Konzept und Praxis der systemischen Psychotherapie,
3) Das Familienstellen Bert Hellingers, 4) Das klassische Familienstellen Bert Hellingers.

[3] Hellinger, Das Familienstellen: Eine Standortbestim­mung In: Praxis der Systemauf­stellung 2/2004, S. 83f

[4] Siehe Olivier Netter, Angewandte Phänomenologie in der Aufstellunsarbeit, in: Kirsten Nazarkiewicz/Peter Bourquin, Essenzen der Aufstellungsarbeit. Praxis der Systemaufstellung. Göttingen 2019, S. 127-150.

[5] www.giordano-bruno-stiftung.de/inhalt/das-humanistische-glaubensbekenntnis, gefunden am 15.4.21

[6] Alemka Dauskardt, The Sacred Cows of Ethics. In: The Knowing Field 31, 2018. S. 89 ff

[7] Bert Hellinger, Natürliche Mystik. Vortrag in Hamburg 2008

[8] Bert Hellinger, Die Mitte fühlt sich leicht an. Vorträge und Geschichten. München 1996

[9] In: Gehrmann/Steinbach, In eine andere Weite. Zur Philosophie & Theologie von Bert Hellinger. Kassel 2018, S. 35

[10] Auch dieser Begriff stammt nicht erst aus der Zeit nach 2003, der Phase des „Gehens mit dem Geist“. Vom „phänomenologischen Erkenntnisweg“ ist bereits in Hellingers Buch Ordnungen der Liebe von 1994 die Rede.

[11] In: wirtschaft + weiterbildung 06/2017, S. 14f

[12] Andreas Urs Sommer: Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt. Stuttgart 2016.

[13] In: wirtschaft + weiterbildung 06/2017, S. 14f

 

Thomas Gehrmann, Aufsteller und Autor zahlreicher Bücher zum Thema (teilweise mit Ursula Steinbach). Kontakt über das untenstehende Formular an die Redaktion.


Und hier finden Sie den Beitrag, auf den sich Thomas Gehrmann bezieht:

Holger Lier und Christiane Lier: Systematische Qualitätsmerkmale in Aufstellungen.

In: Nazarkiewicz, K. und Bourquin, P., Essenzen der Aufstellungsarbeit. Praxis der Systemaufstellung 2019. Göttingen 2019: Vandenhoek & Ruprecht. S. 180-195


Kommentar von Beate Cyrus |

Beate Cyrus

Zur ethischen Verantwortung in der Aufstellungsarbeit
Ein Kommentar zu Thomas Gehrmanns Artikel „Oh Ethik, du schwere Keule!“ (Mai 2021)

Im Mai 2021 veröffentliche Thomas Gehrmann auf dieser Plattform „Praxis der Systemaufstellungen“ als Reaktion auf einen Artikel von Lier & Lier (2019) den Artikel „Oh Ethik, du schwere Keule!“. Gehrmann zweifelt darin an, ob es generell sinnvoll sei, im Sinne eines Ethik-Bewusstseins einen Katalog an Qualitätsmerkmalen in die Aufstellungsarbeit einzubinden, der an humanistischen Werten orientiert ist. Der Text lässt Sachlichkeit vermissen und ist vom Sprachstil emotional geprägt. Um in einen fachlichen Diskurs einzusteigen sollte hinterfragt werden, was die Motivation des Textes ist und ob der Autor ein echtes Interesse an einem Dialog hat. Zu kritisieren ist insbesondere, dass Gehrmanns Text eher an eine polemische Streitschrift erinnert, als sprachsensibel mit hypnosystemischen Themen wie der Aufstellungsarbeit umzugehen. Die Verwendung rechtsradikaler Kriegsrhetorik sollte in Texten, die auch von wissenschaftlicher Seite, interdisziplinär in der Aufstellungscommunity sowie in der breiten Öffentlichkeit ernst genommen werden sollen, keinen Platz finden. Sie führt nicht dazu, dass die Aufstellungsarbeit eine breitere öffentliche Anerkennung bekommt.
Unterstellungen, verallgemeinerte Behauptungen und Formulierungen wie „die ausländischen Leser, „dass der alte Krieg nie aufgehört hat“, „verbandspolitische Kriegserklärung“, „Kampfschriften“, „ins Feld führten“, „von blankem Hass geprägt“, „verfolgten eine heimliche Agenda“, „totale Deutungshoheit“, „heim ins Reich der systemisch-konstruktivistischen Deckungsart“ , „Sie lechzen nach Anerkennung“, „den notorischen Hellinger-Hasser“, „sein Unwesen treibt“, „aus dem humanistischen >>Glaubensbekenntnis<<.“, „anti-religiöse Unterströmung“, „Verleumdung“, „üble Nachrede“, „verlästerten“, , „Nichtig, pulverisiert“, „unklar bis zur Sinnlosigkeit“, „schofel, scheinheilig und niederträchtig“ wirken eindeutig politisch geprägt und gehören nicht in eine fachliche Diskussion über Aufstellungsarbeit.

Kommentar von Christopher Bodirsky |

Thomas Gehrmann hat sich bekanntlich bereits in der Vergangenheit immer wieder dahingehend geäußert, dass er von den Qualitätsrichtlinien der DGfS für die Weiterbildungen in Aufstellungen wenig hält. Daher ist seine Replik auf den Artikel von Lier & Lier (2019) nicht verwunderlich.
Verwunderlich ist, dass sein Artikel -auch in dieser Länge- im Forum der PdS-Online veröffentlicht wurde. Verwunderlich, weil er stark mit Unterstellungen, Mutmaßungen und darauf aufbauender Kritik arbeitet – von seiner Sprache ganz zu schweigen. Das finde ich für einen Verband, dem der wertschätzende Umgang sehr wichtig ist, sehr problematisch. Verwunderlich auch, weil Gehrmann offensichtlich nicht verstanden hat, worum es in dem von ihm besprochenen Artikel überhaupt geht. Oder anders ausgedrückt: Er argumentiert komplett am Thema vorbei.

Wenn sich in einer Aufstellung etwas zeigen soll, ist es einleuchtend, dass in dieser Phase Bewertungen, Vorurteile und somit auch ethische Richtlinien nicht hilfreich sind. Denn nur dann kann sich ja zeigen, was sich zeigen will. Das ist nichts neues, denn bereits Carl Rogers hat postuliert, dass man Klienten erst verstehen kann, wenn man ihnen vorurteilslos entgegen tritt und sich aller Bewertungen enthält. Gunther Schmidt hat das sehr prägnant formuliert „Alles was Klienten sagen ist anerkennenswert und klug – auf der Ebene der Bedürfnisse, nicht zwingend auf der Ebene der Taten!“

In dem Artikel der Lier’s ging es aber um etwas ganz anderes: Nämlich um den Umgang mit den Klienten! Denn hier ist Ethik ein wichtiges und zentrales Thema. Leider wird dies gerade von Aufstellerinnen und Aufstellern, die „nach Hellinger“ arbeiten, nicht selten missachtet, weil sie gerne auch den problematischen Umgang von Hellinger mit seinen Klienten nachahmen. Und das bringt die Aufstellungsarbeit immer wieder in die dann berechtigte Kritik.

Daher war der Artikel der Lier’s sehr hilfreich, weil es den Fokus genau auf den Punkt setzt, worüber man sich immer wieder mal austauschen kann. Dass Gehrmann das nicht verstanden hat wundert mich nicht, da er ja von einer qualitativen Aufstellungsarbeit nichts hält. Umso mehr bleibt meine Verwunderung, dass dieser Artikel in der Online-PdS erschienen ist, da es ja eine große Aufgabe der DGfS ist, für Qualität in der Aufstellungsarbeit zu stehen.

Kommentar von Die Redaktion: Kerstin Kuschik und Olivier Netter |

Lieber Christopher,

zunächst Danke für Deinen Kommentar. Wir antworten hier auf dieser Debattenseite als Redaktion, denn du adressierst im Grunde ja uns in dieser Kommentarfunktion für den Beitrag von Thomas Gehrmann. Wir sehen die Rubrik „Debatten“ eigentlich als einen Raum, in dem pointierte Meinungen und Positionen, Argumente und Interessen ... eben Debatten, stattfinden können. Gerade die tendenzielle Einseitigkeit der hier veröffentlichten Texte soll ein breites Spektrum an Aufstellungsarbeit interessierten Menschen einladen, sich zu den hier veröffentlichten Beiträgen zu äußern.

Wir haben diesen an die Redaktion gesandten offenen Brief veröffentlicht, weil er für uns in seiner Mischung aus Polemik und klarer Argumentation genau hier hin gehört: in die Debatten. Selbstverständlich befanden wir, gibt es genügend inhaltliche Substanz, die debattiert werden kann - neben der Tonlage und den polemischen Formulierungen, die man kritisieren kann. Du siehst das aber offensichtlich anders.
Dass ein Text Missfallen erregt, ist unserer Meinung nach okay, uns ist wichtig, dass es nicht automatisch und reflexhaft dazu führt, den Autor und seinen Text auszugrenzen. Wir finden, dass er durchaus eine Replik oder Antwort verdient hat und eben dazu gehört.

Auch wir als Redaktion stehen natürlich für Qualität und - für vieles andere. Offenheit etwa, Kritikfähigkeit, Vertrauen… Einschließlichkeit auch für das Unerhörte in jeder Weise. Die DGfS muss sich deswegen nicht sorgen, denn wir führen diese Debatten ja auf den Seiten der PdS - und die steht klar erkennbar für redaktionelle Unabhängigkeit und ist nur der Aufstellungsarbeit inklusive ihrer Freiheit verpflichtet.

Wir stehen für weitere, an uns gerichtete Beiträge und Kritik zur Verfügung, die Mailadresse hast du ja, bzw. sind wir über "Kontakt" auf dieser Seite zu erreichen. Gerne veröffentlichen wir dann unseren Austausch ebenfalls, so sich eine neue Debatte ergeben sollte.

Kommentar von Jan Prisor |

„Lob & Dank
Die von Lier & Lier angebotenen konstruktivistisch-systemischen Kriterien sind zwar unklar, aber es ist immerhin ein Versuch.
Jeder einzelne Punkt, den sie nennen, bietet Anlass zu vertieftem Nachdenken. Dafür gebührt ihnen Respekt und Dank.“

So endet Gehrmann seine obige Diskussion zum Artikel von Lier & Lier über systemische Qualitätsmerkmale in Aufstellungen und dieser Würdigung möchte ich mich anschließen. Ach hätte die Diskussion doch mit diesen Worten begonnen!

Über Qualiät von Aufstellungen nachzudenken und sich auszutauschen hat für mich einzig den Zweck, unsere Klienten mit unserer Arbeit bestmöglich in ihrem Leben und ihrer Entwicklung zu unterstützen. Darum geht es meiner Ansicht - jeseits von alten Grabenkämpfen.

Ob systemisch-konstruktivistisch, nach Hellinger, phänomenologisch oder integrativ ist nebensächlich(!), da nur Mittel zum Ziel: Eben der guten Unterstützung unserer Klienten. Und darum geht es eben auch in der Ethik: Dem angemessenen Umgang mit dem Anderen - unseren Klienten. Hier sind aber humanistische Gedanken, die Autonomie und Würde des Einzelnen zum Beispiel - bei aller systemischen Eingebundenheit - sehr wohl am Platz.

Darüber aber sollte meier Ansicht nach auch eine sachliche Auseinandersetzung gehen - jenseits aller in Gehrmanns Diskussion reichlich vorhandenen Polemik. Denn was Aufsteller verbindet, ist die Erfahrung und Überzeugung, dass Aufstellungen eine für bestimmte Fälle besonders geeignete Methode der Beratung und Lösungsfindung sind. Ein wunderbares Werkzeug, aber eben nur ein Werkzeug und nicht der heilige Gral, um den sich Glaubenskämpfe entspinnen sollten.

In diesem Sinne habe ich Lier & Liers Artikel als ein Reflexions- und Diskussionsangebot verstanden, das leider - aus meiner Sicht vorschnell - polemisch entwertet oder mit dem Hinweis, da stecke ja Hellinger gar nicht mehr drin, abgelehnt wurde.

Solange aber die Qualitätsdiskussion um die Frage kreist: Machen wir „Aufstellungen nach Hellinger“ oder distanzieren wir uns von ihm und arbeiten ganz systemisch-konstruktivistisch oder eben als dritten Weg integrativ systemisch-phänomenologisch, geht die Qualitätsdiskussion für mich am Kern vorbei. Und der Kern hat mit Ethik allerdings sehr viel zu tun, denn: Ethik ist eben der gute Umgang mit dem Anderen.

In einem Aufstellunsbild gesporchen: Wir stellen die Aufstellungsarbeit auf, Qualität(smerkmale), vergessen aber den Klienten? Dann kreisen wir um uns selbst!

Und auch in Diskussionen und Diskursen ist Ethik übrigens zentral. Will ich jemanden wirklich verstehen, dann muss ich mich ihm erst öffnen und zuhören, versuchen, seine Position stark zu machen, mich in seine Sicht versetzen: Was ist das Gute an…? - Fragen stellen. Polemische Kritik ist einfach und billig. Aber sie trennt, statt für Begegnung und echte Auseinandersetzung zu sorgen.

Was also ist das Gute an Hellingers Aufstellungsweise? … für unsere KlientInnen!
Was ist das Gute an der systemisch-konstruktivistischen Sicht? … für unsere KlientInnen!
Was wäre das gute an einem „vollem Beiden“? … für unsere KlientInnen!