Der innere Halt

Hildegard Wiedemann

In Familienaufstellungen habe ich häufig erlebt, dass die Bewegung eines Menschen zu seiner Mutter stockt. Es gab zwischen beiden zu viel Verletzungen, Vorwürfe, unerfüllte Erwartungen und Verstrickungen. Es zeigte sich ein unsicheres Bindungsverhalten. Das Muster der unterbrochenen Hin Bewegung und der unsicheren Bindung wiederholte sich in späteren Beziehungen.

Diese Beobachtung führte mich zu Fragen wie:

  • Warum brauchen wir eine Bindung und wie entsteht sie?
  • Welche Bindungen ermöglichen einen dauerhaften Halt und dienen dem Leben?
  • Auf welche Bindungen sollten wir eher verzichten?

Art der menschlichen Bindung an Mutter und Vater oder eine gleichbleibende Beziehungsperson in den ersten Lebensjahren prägt das spätere Bindungsverhalten (1). Sicherheit ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Sie gibt Halt. Das trifft insbesondere für Säuglinge und Kleinkinder zu, die abhängig sind von der Fürsorge und Liebe der anderen. Allein auf sich gestellt können sie kaum überleben. Die Angst zu sterben und der Wunsch zu leben bewirken, dass sich die kleinen Kinder an eine Bezugsperson binden. Zudem sind sie erfüllt von bedingungsloser Liebe und strahlen diese aus, so als sei ihr ganzes Wesen Liebe. Das bewirkt, dass sich die Eltern und Bezugspersonen ihnen gerne zuwenden. Der liebevolle Blick der Kleinen tut ihnen gut. Selbst so genannte Schreikinder, die unter Koliken oder anderen Ursachen leiden, haben in Ruhephasen einen Blick von unendlicher Tiefe, der berührend ist.

Sichere Bezugspersonen, insbesondere die Mutter und der Vater, sind für die Säuglinge und Kleinkinder die wichtigsten Menschen. In ihnen erfahren sie das „Größere“, zu dem sie aufblicken. Sie stellen die Eltern, ihr Verhalten und ihre Werte nicht in Frage. Die Wünsche und Werte der Eltern sind wie göttliche Gebote für das Kind. Es bemüht sich, diese zu erfüllen. Dadurch sichert es sich seine Zugehörigkeit zu ihnen, bekommt die notwendige Fürsorge und einen Halt. Viele Glaubenssätze entstehen in dieser Zeit. Sie basieren auf den Erfahrungen der ersten fünf bis sieben Lebensjahre. Es entstehen auch die ersten Inbilder von der Welt und der eigene Lebensplan (2). Diese formen die „Brillen“, durch die die Kinder und späteren Erwachsenen auf die Welt und ihr persönliches Leben schauen. Da sie auf den eigenen Erfahrungen basieren, werden sie für „die Wahrheit“ gehalten. Es braucht einen Bewusstseinsprozess, um zu erkennen, dass jede Weltsicht subjektiv ist, da sie durch die Erfahrungen der individuellen Kindheit und des eigenen Lebens geprägt wurde. Und es braucht einen weiteren Prozess, um auf die gespeicherten Erfahrungsbilder neue, lebendige Bilder zu legen, die für die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit hilfreich sind (3).

Die frühen Beziehungserfahrungen mit der Mutter sind besonders wichtig. Sie werden verinnerlicht und auf die Beziehung zu sich selbst, zum Leben und zu anderen Menschen übertragen. Die Mutter ist für das Neugeborene das Größere. Sie verkörpert das Göttliche, in dem es enthalten war und an das es sich gebunden fühlt, auch wenn es körperlich durch die Geburt „entbunden“ ist.

Im Laufe seiner Entwicklung nimmt der Mensch bewusst wahr, dass „Gottes Atem“ ihn erfüllt, dass „Es“ in ihm atmet. Ein „Fünklein Gottes“ (4) glüht in ihm, wärmt ihn, gibt ihm das Gefühl, in dieser Welt dazu zu gehören. Es ist von Anfang an im Menschen anwesend wie ein winziger Teil der großen Präsenz des Göttlichen, der bedingungslosen Liebe, aus der er kommt. Aussagen darüber sind Hypothesen, die aus Erfahrungen gebildet sind. Es sind Umschreibungen des Geheimnisses in uns, das uns leben lässt. Da es übernatürlich ist, lässt es sich mit Worten nicht erfassen, nur umschreiben. Es ist der tragende Urgrund in jedem Menschen, sein göttlicher Wesenskern. Er wird auch „Selbst“ genannt (5). Daraus leitet sich das „Selbstvertrauen“ des Menschen ab. So wie das Kind Vertrauen in seine Bindungsperson hat, so entwickelt der Erwachsene Vertrauen in sein Selbst (6). War er als Kind „sicher gebunden“ und erlebte in seiner Mutter den notwendigen Halt, so erlebt er später die Beziehung zu seinem Wesenskern als inneren Halt. Zu der Halt gebenden Bindung an die Mutter und in der Folge an geliebte Menschen und die Welt, kommt eine Bindung an den göttlichen Wesenskern und das Sein. Dadurch entwickelt sich ein innerer Halt, der die Kraft gibt zum Handeln.

In unserer heutigen Zeit sind viele Menschen „unsicher gebunden“. Sie suchen im Außen, in der Welt, nach dem Halt, der ihnen Sicherheit gibt. Sie wollen bei einem Partner oder einer Partnerin ankommen. Schmerzhafte Enttäuschungen lassen den Menschen reifen und zu der Einsicht kommen, dass er die Erfüllung seiner Sehnsucht auf Dauer nicht im Außen finden kann. Der Verzicht auf die Suche nach der „idealen Mutter“ (7) oder einem „Ersatzobjekt“ für sie, ermöglicht die Wendung nach innen und das Ankommen bei sich selbst, seinem inneren Wesenskern, der ein winziges Teilchen des großen Göttlichen ist. (8). Ein japanischer Mönch fasst seine Erfahrung in die Worte: „Herz – keine Spur einer Sorge“.

 

Viele Mütter sind selbst unsicher gebunden, bedingt durch die Prägung in ihrer Kindheit und Verstrickungen in ihrem Familiensystem. Sie können ihren Kindern zwar die notwendige Fürsorge geben, jedoch nicht wahrnehmen, was ihr Kind wirklich braucht, damit es sich angenommen fühlt. Kinder brauchen außer der alltäglichen Fürsorge auch berührt, gesehen und gehalten zu werden. Sie brauchen ein lebendiges Miteinander, Zuwendung, Nähe, Vertrauen und Zärtlichkeit. Auch die Achtung ihres eigenen Raums und eine gute Abgrenzung sind wichtig für sie. Die Erfahrung, dass die Eltern für ihre Kinder da sind, gibt den Kindern Halt. Wenn die Eltern damit überfordert sind, stillen sie die Sehnsucht ihrer Kinder nach Halt, Geborgenheit und lebendigem Miteinander mit „Ersatzobjekten“: Spielzeug, Bücher, Süßigkeiten, Videos, TV, Handys. Die Eltern fühlen sich dadurch entlastet. Sie haben ihren Kindern etwas gegeben. Im Grunde aber haben sie ihre Kinder betrogen, haben sich aus der Beziehung zu ihnen rausgeschmuggelt. Aus ihrer eigenen Prägung und Verstricktheit heraus ist dies verständlich.

Doch, was lernen die Kinder dadurch? Sie lernen schon früh sich an Wissen und Materielles zu binden. Da sie darin aber keine dauerhafte Erfüllung finden, fordern sie immer mehr, häufen Wissen oder Materielles an. Es entsteht der Materialismus. Die Unzufriedenheit wächst und die Suche und Sehnsucht kann in ein Suchtverhalten münden. Es entwickeln sich:  Kaufsucht, Esssucht, Sexsucht, Arbeitssucht. Die Abhängigkeit von Substanzen wie Alkohol, Nikotin und Rauschmitteln wächst. Die Erfüllung der Sehnsucht nach einer Halt gebenden Bindung wird im Außen gesucht und nur kurzzeitig erfüllt.

Die Erfahrung des Selbst oder Wesenskerns gibt dem Menschen einen inneren Halt, so wie die Mutter der äußere Halt in der Kindheit war, selbst wenn sie nicht wirklich präsent war.

Die Bindung des Ich an sein Wesen, sein Selbst, ist Heil voll. Auch wenn im Außen alles zusammenbricht und ein Halt, auch an das Göttliche, nicht mehr spürbar ist, gibt es das innere Sein, das göttliche Fünklein, den Lebensatem. Dies wahrzunehmen, tut gut. Es entspricht dem Orgelpunkt in der barocken Musik. Das Sein ist immer und überall da und natürlich auch im Menschen. Es bildet in ihm den tragenden Grund und die Aufrichtung. Wesentlich ist es, dieses Ich Bin zu spüren. Auch, wenn ich nur ein Pünktchen im Weltgeschehen bin und nichts verstehe, bin ich ein einzigartiges, kostbares Teilchen in der göttlichen Schöpfung. Die Rückbindung an das Sein wirkt stärkend und gibt Zuversicht. Wenn diese Verbindung spürbar wird, ist sinnvolle Handlung möglich. Selbstaggression und Verzweiflung haben keine Macht mehr über den Menschen. Er fühlt sich getragen, frei und dem Leben zugewandt.

Die meisten Menschen in unserer Zeit haben keine sichere Bindung in der Kindheit erfahren, weshalb es ihnen schwerfällt, sich mit ihrem Wesen zu verbinden. Das Sein wirkt in allen Menschen. Wir erleben es auch als das Numinose in der Natur, der Musik, der Kunst, der Religion und der Erotik. Jeder hat die Möglichkeit sich dessen bewusst zu werden und sich mit dem Sein außen und innen zu verbinden. Bei psychischen Beeinträchtigungen kann dies schwerer fallen. In der Bindung an das Sein erfahren wir eine Weite, Klarheit und hilfreiche Distanz zu den alltäglichen Nöten und überschwemmenden Gefühlen. Es gibt uns einen inneren Halt und eine Leichtigkeit im Handeln.

Es gibt viele Möglichkeiten, um die Aufmerksamkeit von außen nach innen zu lenken. Eine ist die Meditation. Beim Sitzen spüren wir unser Becken als tragenden Urgrund. In der Meditation nehmen wir unseren Atem und den Atemraum bis ins Becken ganz bewusst wahr. Im Beobachten des Atems und der inneren Bewegungen verbinden wir uns mit dem Größeren, das uns mit Leben erfüllt.

Eine andere Methode ist die lebendige Erfahrung von Märchen und Mythen. Die bildreiche Sprache lässt gefühlte Inbilder entstehen. Es sind Seelenbilder, die aus der Tiefe des Unbewussten auftauchen. Wir erleben in den alten Volksmärchen und Mythen, dass etwas Größeres wirkt, das nicht benannt wird, aber spürbar ist.  Indem wir dies bewusst erfahren, verbinden wir uns mit dem Größeren. Es wirkt in uns als Halt und stärkt unser Selbstvertrauen.

Ich habe viele Märchenszenen aufgestellt. Symbole für das Selbst wie die Kristallkugel, eine goldene Kugel oder ein Schatz geben dem Helden und der Heldin Selbstvertrauen und Kraft zu handeln. Durch die Arbeit mit Märchen und Mythen integrieren wir die „Mythische Bewusstseinsstufe“ (9) und gewinnen einen lebendigen Bezug zu unseren Gefühlen und dem Größeren. Menschen, die eher rational ausgerichtet waren, erleben sich durch diese Arbeit lebendiger und ihr Leben bunter.

Beim Stellen von Systemen stelle ich inzwischen immer wieder den Wesenskern der Klient*in hinzu. Sie gewinnt dadurch einen weiteren, wohlwollenden Blick auf ihr Problem. Das wirkt klärend, stärkend und gibt der Klient*in Kraft für den nächsten Schritt in ihrem Alltag.

Nun bleibt noch die Frage: welche Bindungen dienen dem Leben und welche gilt es zu opfern, damit das Leben gut weitergeht?

Die Antwort wird wohl jeder für sich finden. Aus meiner heutigen Sicht ist die Bindung an das Göttliche, das Sein, an die bedingungslose Liebe, die Basis für ein gelingendes Leben auf der Erde. Durch die Verbindung mit dem „Fünklein Gottes“ können wir die eigene Aufgabe hier auf der Erde wahrnehmen und haben die Kraft, sie Schritt für Schritt zu erfüllen. So macht das Handeln Freude. Auf die Bindung an Wissen (10,11), an Materielles und an Suchtverhalten, das die innere Leere füllt, kann verzichtet werden, ebenso auf toxische Beziehungen. Die dadurch freiwerdende Kraft kann in ein Engagement für ein lebendiges Miteinander fließen.

Anmerkung: Zum „Ich-Wesenskern“ hab ich ein Ritual entwickelt, das ich auf Anfrage gerne zuschicke.

Quellen, die in meine Gedanken geflossen sind:

  1. Holmes, John Bowlby und die Bindungstheorie, München 2006: 4 Arten des Bindungsverhaltens: sicher, unsicher-ambivalent, unsicher-vermeidend, unsicher-chaotisch
  2. Eric Berne, Transaktionsanalyse, Lebensskript
  3. Gerald Hüther, Die Macht der inneren Bilder, Göttingen, 2010
  4. Meister Eckhart und andere Mystiker sprechen vom „Fünklein Gottes“
  5. G. Jung, Das Selbst als Zentrum des Unbewussten
  6. Erich Neumann, Das Kind, Fellbach, 1980
  7. Bert Hellinger, Ein langer Weg, München 2005
  8. Graf Dürckheim, Meditieren-wozu und wie, Freiburg 1976
  9. Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart, 1. Teil, München 1973
  10. Bert Hellinger, Gedanken unterwegs, München 2003
  11. Russisches Märchen: Vassilisa, die Weise

Hildegard WiedemannHP (psych), Lehrtherapeutin für Initiatische Therapie und Systemaufstellungen, anerkannte Weiterbildnerin für Systemaufstellungen (DGfS), Mitglied im Weiterbildungsausschuss der DGfS, eigene Praxis für Systemaufstellungen und Initiatische Therapie, Hypnotherapeutin.


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