Editorial 2/2020

Neben der akuten schwer kalkulierbaren Gesundheitsgefährdung durch COVID 19 ist der Umstand, mit vielfacher Unsicherheit und wenig Wissen umgehen zu müssen, ein Teil der aktuellen Krisensituation, die uns alle in der einen oder anderen Weise betrifft. Unsicher sind nicht nur wir, sondern auch die Entscheidungsträger, von denen eigentlich erwartet wird, dass sie besser informiert und beraten sind – was die Unsicherheit für viele noch weiter verstärkt.

Aber erinnern wir uns: Dieser Krisen-Zustand besteht nicht erst seit Ausbruch der Pandemie, sondern bereits seit längerem und das gleich auf mehreren Gebieten. Wirtschaftliche, geopolitische, technologische und das Klima betreffende globale Entwicklungen werfen sich zuspitzende Fragen auf, für die es größtenteils noch keine Lösungen gibt und noch nicht geben kann.
Diese, die gesamte Gesellschaft betreffenden Probleme, erzeugen für alle spürbar seit längerem untergründige Spannungen und Verunsicherungen und drängen damit jeder einzelnen Person eine kompensierende An­pas­sungs­leis­tung auf, um diese Spannung auf persönlicher Ebene, emotional und intellektuell, zu verarbeiten, zu verdrängen oder auf andere zu verschieben. Dass sich weltweit deshalb Menschen und ganze Nationen aktuell in einer emotional angespannten Situation befinden ist unübersehbar und auch, dass es sehr unterschiedliche Reaktionen auf die kollektive Nötigung zu Anpassung und Verarbeitung gibt.
Wie auch immer wir persönlich reagieren, in dieser Situation ist ein starkes Motiv, einen Beitrag zu leisten, für Jede die und Jeden der sich äußert, das Bedürfnis, den unfreiwillig begonnenen Lernprozess, die unversehens eingetretene Lebensphase mit Coronavirus SARS CoV-2 möglichst ohne Schädigungen an Leib, Seele und dem gemeinschaftlichen Miteinander durchzustehen und vielleicht sogar konstruktiv zu nutzen. Wir sind privat und persönlich angesprochen, aber auch als AufstellerInnen, nicht zuletzt, weil hinter dem nach wie vor individuell schwer zu bewertenden Risiken für Leib und Leben mit großen Lettern das existentielle Thema WAS IST DIE WAHRHEIT? steht. In unterschiedlichsten Ausformungen lässt sich hinter der sogenannten „Corona-Krise“ eine weltweite Krise der Wahrheit und des Vertrauens erkennen. Wie ist das möglich, so fragen wir uns als Redaktion, dass ein solches doch sehr abstrakt erscheinende Thema eine globale Verbreitung erfährt? Und führen wir Aufsteller nicht schonseit längerem unsere Debatte mit dem Thema WAHRHEIT und ihrem potentiellem Verschwinden? Dieser Frage sollten wir als Aufsteller unter neuer Perspektive und Dringlichkeit, intensiver nachgehen, als das bisher geschah. Wie sollen wir also auf das uns umgebende Spannungsfeld gesellschaftlicher und individueller Verwicklungen, Verwechslungen und Kontroversen schauen, ohne in die zum Teil hoch emotionalisierten Auseinandersetzungen verstrickt zu werden? Vielleicht liegt ja in den Tugenden der systemisch-phänomenologischen Praxis ein Chance, wahrnehmend dabei zu sein und zu begleiten, ohne selbst ein Opfer der zu beobachtenden Spaltungen und Radikalisierungen zu werden. Wie also könnte man fragen, kann man sich selbst beruhigen, seinen Selbstwert und seine Integrität bewahren, in Auseinandersetzungen nichts persönlich nehmen, Vertrauen haben und dem Ganzen dienen? Wir (die Red.) denken, das kann vielleicht nicht immer gelingen aber eine innere Verpflichtung, diese Punkte weiter anzustreben kann helfen, in dieser Zeit den Überblick zu behalten. Wenn wir die sich aktuell zeigenden Phänomene, Lagerbildungen und Entwicklungen, als Teil einer noch zu verstehenden Ganzheit ansehen, können wir allmählich auch lernen, Bedeutung und Funktion von problematischen, negativ aufgeladenen Rollen im gesellschaftlichen Geschehen als solche zu verstehen, statt sie mit Diagnosen für uns unschädlich zu machen. „Die unmöglichen anderen“ sind immer auch wir, sie weisen auf fortgeschobene Themen, Mängel und Ausgeschlossenes, unseren gesamtgesellschaftlichen Schatten, hin – was wir aus der systemisch-phänomenologischen Arbeit und nicht zuletzt aus unseren eigenen Biografien genau so kennen. Gerade in Zeiten der eigenen Unsicherheit das Provozierende, Herausfordernde und Beängstigende nicht auf uns selbst zu beziehen, sondern als Hinweis auf unaufgedeckte Gross-Konflikte, Ungerechtigkeiten und ungelöste Probleme zu verstehen, ist die große Herausforderung und zugleich unsere Chance als Phänomenologen. Es ist ja nicht so, dass wir uns – einmal diese weise Einsicht erlangt – zurücklehnen könnten. Das Unberechenbare der aktuellen destabilen und komplexen Lage fordert uns eine beständige Neubewertung dessen ab, was sie in uns auslöst und was wir im Außen wahrnehmen. Dies ist schwierig aber nötig und wichtig. Auf diesen Umstand möchten wir als Redaktion unsere Aufmerksamkeit richten, in der Hoffnung, aus den uns vertrauten Sicht- und Beurteilungsweisen heraustreten zu können, um vielleicht etwas bisher Unbekanntes wahrzunehmen, was uns und allen nützt.