Editorial 1-2020

Anlässlich des Todes von Bert Hellinger blicken wir als Gesamtredaktion* mit Anerkennung und Dankbarkeit auf das von Ihm geschaffene Werk. Er hat das Familienstellen maßgeblich entwickelt und in seiner ganz eigenen Art in der Welt verbreitet, war uns und vielen anderen Inspiration, Vorbild und nicht zuletzt eine stetige Herausforderung. Seine Einsichten jedoch wirken auch in unserer Arbeit weiter. Das würdigen wir und möchten hiermit unseren Respekt und unseren Dank ausdrücken. Vielen Dank Bert Hellinger! 

Die Themenbuch und Forum-Redaktion: Peter Bourquin, Marion Lockert, Kerstin Kuschik, Kirsten Nazarkiewicz, Olivier Netter

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Blickt man auf die ca. 10 Jahre der Existenz der Praxis der Systemaufstellungen zurück, so wird schnell klar, dass in den dort zu lesenden Aufsätzen und Arbeiten so gut wie jeder Aspekt der damaligen Praxis luzide durchleuchtet und bewertet wurde. Zu der ursprünglichen Praxis des Familienstellens kam dann bald die Organisationsaufstellung dazu. Auch diese wurde in vielen  Artikeln dargestellt und beleuchtet.  

Mittlerweile hat sich das Feld der Anwendung der „stellvertretenden Wahrnehmung“ nochmals stark erweitert. Nachdenken und berichten über Aufstellungen heißt heute für die Redaktion der „Praxis der Systemaufstellung“, sich mit einer vielfältigen, sich immer weiter ausdifferenzierenden Praxis und neuen Gebieten des Wirkens auseinanderzusetzen. Wissensvermittlung, Politikberatung, Organisationsberatung und akademisches Interesse an dem Phänomen des „Denkens im Raum“ sind überwiegend durch die Vorstellungen der logischen Strukturaufstellungen von Kibéd und Sparrer geprägt. Sprache und Form dieser Vermittlung und auch ihre spezifisch philosophisch fundierten Erklärungsstrategien der „stellvertretenden Wahrnehmung“ kommen aus dem universitären Raum und passen damit optimal in die akademisch geprägten Umwelten, in denen sie gerade jetzt ihre stärkste Ausbreitung erlebt. 

Die Gegensätze zwischen Phänomenologen und Konstruktivisten, die das Feld der praktizierenden Aufsteller teilen, sind unserer Meinung nach nur ein vorübergehendes Phänomen. Beide Bereiche sprechen in der Tat eine eigene Sprache, für die es scheinbar kein gültiges Übersetzungswissen gibt. Aber: dies ist auch so, weil durch die Struktur einer auf Abgrenzung und gegenseitigen Indienstnahme gebauten Verständigungshürde, die Schwächen der jeweils eigenen Position dem Gegenüber aufgebürdet werden. Was meinen wir damit? 

Da wo die „Phänomenologen“ die impliziten Voraussetzungen ihres Leitungshandelns selbst nicht wahrnehmen oder sogar verleugnen, vorgeblich nur aus dem Moment und ganz voraussetzungslos sehen und deshalb auch nicht kritisch hinterfragen können, diagnostizieren die „Kontstruktivisten“ zu Recht mögliche Willkür und Beliebigkeit des Handelns. Umgekehrt vernachlässigen die Konstruktivisten eine kritische Infragestellung ihrer Konzepte von Struktur und Grammatik, in die ja doch  in einer eigenen Interpretationsleitung jeder individuellen Fall zuallererst eingepasst werden muss. Die Manualisierung der Aufstellungsarbeit gilt hier als großer Vorteil der Methode und dort zu Recht als Ausweis der Reduzierung alles Individuellen auf eine logische (beliebige) Norm. 

Unsere Aufgabe sehen wir darin, ungeachtet der vordergründigen Unvereinbarkeiten an der Idee eines nicht normierten, offenen Systems der Aufstellungspraxis festzuhalten, in dem niemand „den Raum verlassen“ muss. Auch Schamanistische und auf Märchen oder anderen Erzählungen (LIP) oder Strukturen  (Aufstellen des Anliegensatzes) basierende Aufstellungskonzepte gehören dazu, allein schon deshalb, weil ihre innere Verwandtschaft mit den beiden Hauptströmungen allzu offensichtlich ist. 

Das gute Leben – dieses Ziel aller Bemühungen hat als Begriff und Idee Eingang in die neuere Soziologie gefunden und hat von dort aus das Zeug dazu, das Bewusstsein einer zentralen Übereinstimmung zu bilden. Der Artikel des Soziologen, Organistationsberaters und Strukturaufstellers Siegfried Rosner ist jedenfalls in seiner Klarheit und Deutlichkeit eine kleine Offenbarung.  

Eine besonders frühe Form eines solchen nach außen hin geschützten Kraft- und Heilungsraumes sind die selbst hergestellten, und mit Fell- und Widderhorn-Motiven versehenen Andachtsfilze der turkmenischen Nomaden. An Ihnen erscheint die Grundform des heilkräftigen Raumes in besonders klarer Weise. Die Andachtsfilze bieten demjenigen Schutz, Kraft und Heilung, der sich in ihren Wirkungsraum begibt. Dies geschieht, indem meist eine einzelne Person, oder bei besonders dazu gestalteten Filzen auch mehrere gleichzeitig, sich zunächst auf den Filzteppich stellt und dann in das Innere des aufgebrachten grenzziehenden Motivs setzt.  

Eine Umrandung in der Form eines Widderfells stellt den inneren, geschützten Raum her. In diesem Raum erscheinen Rauten- oder Widderhorn Ornamente. Durch die Darstellung eines abgezogenen Widderfells wird die Seele des Widders und seine besondere Mächtigkeit präsent gemacht. Sie steht demjenigen, der sich darauf setzt, zur Verfügung, wenn er sich nicht nur räumlich sondern auch geistig mit ihr verbindet. 

Die turkmenische Ursprungsreligion ist der Totemismus. Nach den Vorstellungen dieser Naturreligion stammen alle Turkmenen einer Region vom gleichen Totemtier ab. Der Rückbezug auf diesen Ursprung vermittelt die in ihm gedachte Kraft und Identität. Im ursprünglichen Totemismus wird einmal im Jahr das Totemtier gemeinsam verspeist, wodurch Schuld und Krankheit getilgt wird. Das Widderfell und die Widderhörner tragen aber die Energie und Macht des in den jenseitigen Raum übergetretenen Tieres genauso, wie die bildliche, meist stark symbolhafte Darstellung im URZEICHEN von Fell und Hörnern auf den Filzen. 

Wie heute Räume der Heilung und der Kraft gebildet werden, könnte an den Beispielen dieser Ausgabe des FORUMS wie auch an vielen anderen Beispielen der Arbeit mit Menschen gezeigt werden. Gemeinsam ist diesen Räumen, dass sie die Möglichkeit eröffnen, genau hier und jetzt in einer sicheren Weise, unterstützt durch einen erfahrenen Begleiter oder alleine, in Kontakt mit den Kräften zu treten mit denen man einerseits in Streit geraten ist, aber auch mit jenen, auf deren Unterstützung man rechnen kann. Auch dass dazu Ernsthaftigkeit und vorsichtiger Respekt am besten passen, hat sich nicht geändert.[nbsp]

O.N.