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Kommentar von Christopher Bodirsky |

Liebe Hildegard,
zunächst lieben Dank, dass Du einen Kommentar geschrieben hast. Vielleicht vorab noch einmal meine Grundidee: Wenn ich eine sehr handwerkliche Arbeitsweise unterrichte dann nicht mit der Idee, dass mann immer so arbeiten soll. Mit geht es nur darum, dass man sicher und mit einem guten Gefühl anfangen kann, um dann im Laufe der Zeit, wenn die Intuition gewachsen ist, diese Regeln vernachlässigen zu können. Ich vergleiche das gerne mit Berufsmusikern: Die üben auch jahrelang ein Handwerk (Beherrschung des Instruments, Harmonielehre, Musikepochen etc.). Und nach vielen Jahren kann dann AUF DIESER GRUNDLAGE Kunst entstehen! Für eine gute Kunst (und für mich ist die Aufstellungsarbeit ein „Kunstvolles Handwerk“) ist es für mich wichtig, dass es eine gute handwerkliche Grundlage braucht. Man sagt nicht umsonst: Kunst kommt von können.

Vielleicht wird jetzt das Thema mit den Winkeln klarer. Es soll nur für den Anfang ein einfacher, zusätzlicher Indikator für die Hypothesenbildung sein. Ich bin voll bei Dir, dass die „leere Mitte“ absolut wichtig ist. Aber nach meiner praktischen Erfahrung, kann das kein Anfänger! (Ok, 1-2 pro Kurs können das ansatzweise - mehr aber nicht. Zumindest in meinen Kursen). Und bevor Aufstelle*rinnen mit einer angeblichen „leeren Mitte“ - in Wirklichkeit aber mit ihren eigenen Glaubenssätzen, die sie für die leere Mitte halten - Unheil anrichten, ist es mir zunächst eine handwerkliche Arbeit lieber. Und glaube mir bitte, ich habe viele Berichte von Menschen, die genau das leider erlebt haben.
Zur Liebe: Dieser Fall war keine Parentifizierung, weil sich die Tochter nicht als „Große“ gefühlt hat, sondern als Sklavin ihrer Mutter. Dies ist die Besonderheit einer „nicht-konstruktiven Bindung“. Dieser Fall von dem ich dort berichte, ist tatsächlich mit massiv schlimmen Folgen passiert. Auch der Satz „Du bist die Große / ich die Kleine“ würde in diesem Fall nicht helfen, sondern als Verstärkung wirken und diese nicht-konstruktive Bindung verstärken, da sie dann erst recht angehalten wird, die Mutter als „Große“ zu akzeptieren.
Leider ist das nicht der einzige Fall, bei dem Aufsteller*innen Hellinger falsch verstanden haben. Hellinger hat ja leider oft Einzellösungen so hingestellt, als wären sie „generell anzuwendende Lösungen“. Zumindest haben das viele so verstanden. Es gibt da nämlich ein Problem: Typischerweise kommen wir mit derartigen katastrophalen Aufstellungen nicht in Kontakt, weil diese Klienten bedient sind und nie mehr eine Aufstellung machen. Da Karin, meine Frau, als Homöopathin manchmal eine Aufstellung empfiehlt, erhalten wir dann hin und wieder Rückmeldungen wie „Um Gottes Willen, bleiben sie mir damit vom Leib, da habe ich schlimme Erfahrungen gemacht“. Und dann hören wir sehr oft, dass Frauen, die von ihren Müttern psychisch mißbraucht wurden, ihre Mutter nur „mehr Lieben“ sollen….
Leider scheint das offensichtlich kein Einzelthema zu sein, sondern kommt öfter vor, als man denkt.

Lieben Dank, und eine gute Woche wünscht Dir
Christopher

Kommentar von Hildegard Wiedemann |

Lieber Christopher,

du hast gebeten, dass es eine Diskussion zu deinem Aufsatz gebe. Ich freu mich über deine Offenheit. Danke.
Die DGfS hat sich weit aufgestellt. Da finden unterschiedliche Ansätze ihren Platz. Das weiß ich sehr zu schätzen.

Eine Stellungnahme schreib ich dir, meine spontane Resonanz.

1. Ich staune über die Anweisungen, was deine Schüler lernen, Winkel...
Das ist mir fremd. Vermutlich hatte ich andere Lehrer und hab ich andere Schüler.
Bei Bert berührte mich das "Sammeln auf die leere Mitte", keine Hypothesen, kein Denken, sondern wahrnehmen, was den Klienten und mich berührt, ganz im Moment sein.
So ausgerichtet arbeite und unterrichte ich seit 32 Jahren. Es ist eine Arbeit im Vertrauen.
Das Eingeständnis des Nichtwissens erlöst mich vom "richtig machen müssen". Auch Umwege sind Wege. Bert hat mich in diesem tiefen Vertrauen sehr unterstützt.
Der Halt liegt meines Erachtens nicht in äußeren Regeln, die befolgt werden, sondern in innerer Sammlung und Präsenz. Das ermöglicht mir, Berührung und Bewegung wahrzunehmen. An der Resonanz des Klienten erlebe ich die Stimmigkeit der Aufstellung für ihn. Für mich wesentliche Werte sind: Sammlung, Präsenz, Vertrauen und Annahme dessen, was ist.

2. Dein Text zur Liebe. Du stellst zu Beginn eine Parentifizierung dar. Bert riet dazu nicht „ noch mehr lieben“, sondern, „ich bin die/der Kleine, du die Große, Mama“. Wenn ich das meinen Klienten vorschlage, wird die Liebe des Kindes sichtbar und sein Schmerz. Beides kann dann gewürdigt werden. In der Annahme und dem Ausdruck des Schmerzes über die ins Leere gegangene Liebe des Kindes, kommt der Klient bei sich an. Er wird erwachsen und kann sein verletztes Kind zunehmend spüren, zu sich nehmen und lieben. So steht er der Mutter als Erwachsener gegenüber, kann ihr danken für sein Leben und gehen.
Ich weiß nicht wer bei einer Parentifizierung lehrt "noch mehr die Mutter/ den Vater lieben". Das hab ich noch nie gehört.

Gutes dir und herzliche Grüße

Hildegard

Kommentar von Christopher Bodirsky |

Liebe Kerstin,

ganz lieben Dank für Deinen so ausführlichen und spannenden Exkurs zum Thema „Intuition“! Ich antworte leider erst jetzt, da ich (Asche auf mein Haupt) erst heute wieder mal in der PdS war. Da ich nicht verstanden habe, wie ich auf den Kommentar antworten kann, möchte ich Dir aber dann eben eine Mail schreiben.

In weiten Bereichen kann ich Deinen Ausführungen sehr gut folgen, noch besser, sie regen mich wieder zu neuen Gedanken an. Danke dafür. Ich möchte nur kurz auf meine Intension eingehen. Durch Deinen Kommentar angeregt ist mir die Frage gekommen, inwieweit z.B. Haltung die Intuition beeinflußt. Für mich ist ja „Intuition“ der Part, wo ich einfach aus mir selbst heraus, ohne dass ich das genau begründen könnte, eine Entscheidung fälle - z.B. genau diesen Prüf- oder Lösungssatz jetzt anzubieten. Und diese meine Intuition wird doch stark auch von meiner Haltung beeinflußt. Wenn ich z.B. die Idee verfolge, dass ICH der Wissende bin, werde ich doch sicher eher sehr direkte Sätze finden, eher normativ auftreten. Wenn ich dagegen die Klienten als Experten ihrer Welt verinnerlicht habe, sollte auch meine Intuition sich entsprechend anpassen - nur so eine ungeprüfte Hypothese von mir. Und das wäre dann ja eine der „weiteren Quellen“ für den Erwerb von Intuition.

Mein oberstes Ziel ist es, dass Menschen, die mit der Aufstellungsarbeit beginnen, über ein gutes Handwerk verfügen, denn das kann man lernen. Z.B. eine „leere Mitte“ halte ich für sehr schwer erlernbar, die muss sich entwickeln, denke ich. Und bis dahin ist es mir lieber, jemand arbeitet vielleicht zu sehr nach Regeln und Strukturen, als dass er einfach das, was im gerade einfällt und oft aus seiner Welt stammt, für eine „leere Mitte“ - oder manchmal als „Eingebung des Systems" (was immer das ‚System‘ sein soll), annimmt. Ich finde den Satz so gut: "Kunst kommt von Können“. Hier: (Aufstellungs-)Kunst kommt von (handwerklichem) Können.
Unsere Nachbarn sind Musiker in verschiedenen Orchestern. Die Menschen, die dort wunderbare Kunst zeigen, haben ja auch viele Jahre sich handwerklich all das angeeignet, worauf dann erst Kunst entstehen konnte. Das ist für mich immer ein gutes Beispiel. Und leider erlebe ich -gerade in der Welt der Aufstellungen- noch viel zu oft anderes.

Wo ich großen Wert darauf lege ist eine hilfreiche Haltung einzunehmen, und das bekommen meine Schüler*innen auch immer wieder mit Einstreutechnik regelrecht „eingetrichtert“. Das Fernziel ist es natürlich, dass man im Laufe der Zeit diese handwerklichen Regeln und diese Strukturen, die „Grammatik“, immer weniger benötigt, sondern durch Erfahrung und damit wachsender Intuition sich davon befreien kann. Und ich erlebe es auch an mir selbst: Die vielen handwerklichen Kleinigkeiten, die die Strukturaufstellungen ausmachen, die Interventionen um Hypothesen zu überprüfen, nehme ich nach wie vor sehr gerne. Aber in meinen Aufstellungen verwende ich extrem selten eines der Aufstellungs-Strukturformate, die sind mir viel zu starr.

Für mich ist ja die Grundidee von Sparrer / Kibed, Aufstellung ganz nach mathematisch/grammatikalischen Regeln durchführen zu können, ohne in den Inhalt gehen zu müssen, kein gutes Ziel, und ich bezweifle auch, ob das zielführend und hilfreich ist. Aber auf dem Weg dahin haben die beiden für mich einfach viele saugute Tools entwickelt.

Liebe Kerstin, nochmal vielen Dank für Deinen Anstoß zur Weiterentwicklung meiner Gedanken. Lieben Gruß,
Christopher

Kommentar von Kerstin Kuschik |

Lieber Christopher,

Danke für dein Statement zu Qualitätsaspekten bezüglich unserer Arbeit. Das nehme ich zum Anlass, einmal eine Funktion unseres Forums nutzen: die eines Raumes für Austausch. Ich schreibe hier allerdings nicht als Redakteurin, sondern als Kollegin. Es folgen einige Anmerkungen zum vierten Teil deiner Beiträge, in dem es um Intuition geht.

Du definierst dort mit Stadmüller Intuition als eine Summe von Erfahrungen und Wissen, die ausschließlich aus uns selbst kommt.

Vor allem im zweiten Teil des Satzes beziehst du dich auf eine von Markus Hänsel formulierte Aussage bezüglich des Kognitionspsychologen Daniel Kahneman und auch auf Hänsel selbst. Zu Kahneman möchte ich anmerken, dass es in seinen Aussagen zu den zwei Modi des Denkens meines Erachtens nicht darum ging, ob Intuition ausschließlich aus uns selbst kommt oder ob sie auch noch aus anderen Informationsquellen gespeist werden könnte. Es ging ihm noch nicht einmal um Intuition an sich als Untersuchungsgegenstand. Er untersucht auch intuitive Entscheidungen, und zwar daraufhin, ob sie und wie sie in ihrer Gültigkeit von uns selbst beurteilt werden können. Er untersucht nur die Intuitionen, die in uns selbst durch Wissen und Erfahrungserwerb abgerufen werden können und hier genauer: welchen Irrtümern wir aufsitzen können. Ob es auch andere Intuitionsquellen geben könnte, die etwa außerhalb von uns Informationen bereit hielten – darüber sagt er nichts, das interessiert ihn für seine Forschung nicht (Kahneman, 2015). Ihn also für eine Definition in obigem Sinne heranzuziehen, irritiert mich.

Hänsel argumentiert für eine neue Aufmerksamkeit auf Intuition als einem Phänomen, dass uns immer wieder unsere transzendente Bewusstseinsqualitäten erfahren lässt. Wobei er Transzendenz hier nicht als „prärationale Verklärung“ einer „absoluten Wahrheit“, versteht, „der wir unreflektiert folgen sollten“ (Hänsel, 2019, S.53). Dem kann ich mich anschließen. Intuition ist für mich eine Erfahrung des Dazwischen. Eine Erfahrung, bei der uns die Wechselwirkungen der Informationen unseres Unterbewussten mit denen der unterbewussten Strukturen unserer Mitmenschen oder Informationen der Umgebung zunächst verschlüsselt gewahr werden. Wenn wir hierauf sensibel achten und diese Empfindungen ernst nehmen ohne sie mit einem Wahrheitsanspruch zu verwechseln oder mit einer göttlichen Eingebung (auf beide Weltverständnisse kann für ein gutes Ergebnis verzichtet werden; wir können ganz bei dem Phänomen bleiben), wenn wir sie dann prüfen und / oder ausdrücken, agieren wir sowohl intuitiv als auch kognitiv an Grenzen: verschiedener Bewusstseinszustände, Beziehungen, subjektiver Perspektiven von Ist- und Sollannahmen und anderem. Damit wird der Aspekt von Intuition deutlich, der eben gerade nicht ausschließlich auf uns selbst verweist und aus uns selbst entsteht. In unserem Handbuch zur Qualität in der Aufstellungsleitung haben Kirsten Nazarkiewicz und ich dieser „aufgeklärte(n) Intuition“ einen Abschnitt in unserer Einführung (Nazarkiewicz/Kuschik, 2015, S. 28 f).

Aufstellungen sind eine hervorragende methodische Antwort auf allzu einseitige, reduktionistische Versuche, Veränderungen zu fördern indem sie die komplementären Foki konstruktivistischer Mehrdeutigkeit und phänomenologischen Evidenzerlebens in einem Spannungsfeld beständig miteinander in Beziehung halten. Hierfür spielt meines Erachtens Intuition als Fähigkeit oder sogar Bewusstseinsqualität eine wichtige Rolle, so lese ich auch Hänsel. Sie sollte folglich unbedingt in Ausbildungen einen Entwicklungsraum bekommen! Ob ich das lehren nennen würde? Nein. Das würde einen Plan voraus setzen, eine Art fixes, umfassendes und geprüftes Wissen und hier kann ich dir zustimmen: Ein solches Lehrverständnis würde einer Förderung der Fähigkeit Intuition nicht gerecht werden. Ich als Ausbilderin wollte und könnte dies auch nicht anbieten. (Ich bin keine Ausbilderin für Aufstellungen, aber eine in Bereichen der Kommunikation, der Kreativität, der Stimme – und halte dies für vergleichbar.)

Allerdings würde ich einen zu starken oder ausschließlichen Fokus auf Strukturen, Grammatiken oder Normen als Beschränkung erleben. In deinem Beitrag beziehst du dich explizit auf die Funktion und Bedeutsamkeit von Grammatik, wie Kibed/Sparrer ihn verwenden, nämlich als ein Ordnungssystem von Strukturaufstellungen, was folgerichtig ist, wenn man wie sie, Aufstellungen als Sprache versteht. Um einmal den Begriff Grammatik in seiner allgemeinen Bedeutung als Sprachlehre aufzunehmen: Grammatikkenntnisse sind für jeden Sprechenden sehr hilfreich, um Sprachfähigkeit und – sensibilität zu erhöhen. Du gibst hier im Artikel der Verbandszeitschrift der DGSF interessante Beispiele (Kontext, 2015, S.118 f.). Grammatikkenntnisse sind erst recht wichtig, wenn ich Sprachfähigkeit als Begleitung bei anderen fördern helfe und unterstütze. Aber sie ist längst nicht ausreichend – weder als Kenntnis noch als Prozess-Struktur an sich, um Sprachfähigkeit umfassender so auszubilden, dass die Ausgebildeten selbst ihre Begleitung anbieten können. Sie ist auch nicht ausreichend, wenn es um Aspekte des Sprechens geht, die etwa Konflikte zum Gegenstand haben, die sich in Neues hineintasten, die kreative, künstlerische Räume betreten... und ähnliche, Veränderungen ermöglichende Sprechbeziehungen.

Abschließend möchte ich auf jene Möglichkeiten hinweisen, die prädestiniert und tradiert sind, um Intuition, Körperbewusstsein, Kommunikationsfähigkeit, Haltung und andere komplexe innere Prozesse gerade im Miteinander einer Weiterbildung „auszubilden“ (Achtsamkeitspraxis, Übungen in Vertrauensbildung, Körperwahrnehmungsübungen, künstlerische Techniken...). Qualität schließt in diesem Sinne für mich ein, dass wir solchen Techniken und Haltungen viel Zeit widmen, dass wir die Weiterbildungen auch als Raum für Bewusstseinsentwicklung verstehen und mit einem hohen reflexiven Anteil ausstatten. Dies tun ja viele Kolleg*innen, meine eigenen Weiterbildungen waren so angelegt. Kirsten Nazarkiewicz, ich selbst und einige andere Kolleg*innen haben einiges davon auch im Handbuch zeigen können (Nazarkiewicz/Kuschik, 2015).

Lieber Christopher, dein Beitrag hat in mir viele solcher Gedanken gerade in Bezug auf Intuition erneut angestoßen, so dass ich mich über diesen Beitrag hinaus entschieden habe, sie für das Themenbuch 2021 zu sortieren und in einem Artikel zu fassen. Dafür zum Schluss dieser kleinen Replik auch mein Dankeschön.

Kerstin Kuschik

Literatur:
Bodirsky, C. (2015). Betrachtungen zur Qualität in der Leitung von Familienaufstellungen. In: Kontext. Zeitschrift für Systemischen Therapie und Familientherapie, S. 118-124. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht.

Hänsel, M. (2019). Intuition als Weg zur Entwicklung von Sein und Bewusstsein. In: Essenzen der Aufstellungsarbeit. Praxis der Systemaufstellung. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht

Kahneman, D. (2015). Schnelles Denken – langsames Denken. München: Pantheon

Nazarkiewicz K. / Kuschik. K. (2015). Handbuch Qualität in der Aufstellungsleitung. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht