Bibeltext-Aufstellung

Christine Ziepert

Von Christine Ziepert

 

In einem ostdeutschen Pfarrhaus aufgewachsen, wurde ich von Kind an mit biblischen Texten vertraut gemacht. Ich spürte früh das Spannungsfeld zwischen der Vision, der Schönheit und auch Kraft dieser alten Texte und den Menschen in meinem Umfeld, die in meinen Augen diesen Texten selbst nicht genug trauten oder auch danach nicht immer lebten/leben konnten. Bis heute rege ich mich auf, wenn diese alten erfahrungsträchtigen Texte besonders von engen Christenmenschen wörtlich gelesen und in dieser Lesart weitertradiert werden.

Vor ca. 15 Jahren nahm ich in Österreich bei Schülerinnen von Siegfried Essen an einem Bibliodrama mit Textaufstellung teil. Ich war fast betroffen, welche Aussagen von bestimmten Stellvertretungen gemacht wurden, die meinen Erfahrungsbezug stärker tangierten als sogenannte Glaubensgewissheiten und dogmatische Aussagen manch kirchlicher Vertreterinnen und Vertreter.

Mich ließ diese Erfahrung nicht mehr los, und ich wollte eine Aufstellungsausbildung machen. An den freien Abenden in der Ausbildung bei Dr. Albrecht Mahr experimentierten wir mit biblischen Texten, und wieder stellte sich diese Faszination ein: Da ereignet sich heute, nach über 2000 Jahren Menschheits- und Gottesgeschichte.  Ich erlebe immer wieder, dass nach mancher Bibeltextaufstellung Teilnehmende zu mir kommen und meinen, dass sie mit Kirche nichts mehr am Hut hätten, aber hinter diesen Texten stünde doch mehr, als angenommen. Und irgendwie wird eine Sehnsucht geweckt.   In der jüdischen Tradition wird von schwarzem und weißem Feuer gesprochen: Das schwarze Feuer sind die Buchstaben der Tora, also auch deren Begrenzung. Das weiße Feuer sind die Zwischenräume, die Raum lassen für das Unsagbare, Grenzenlose und immer Gegenwärtige. Dieses weiße Feuer erlebe ich, wenn ich biblische Texte aufstelle.

Ich möchte dies an einem Beispiel deutlich machen.

Im Unterschied zu einer klassischen Familienaufstellung geht eine Textaufstellung vom Inhalt einer vorgegebenen Geschichte aus, hier von der  Begegnung zwischen Jakob und Esau (1. Buch Mose, Kapitel 32+33), in welcher immerwährende Themen von Liebe und Verrat, Bevorzugung und Benachteiligung, Rangordnung und deren Folgen geschildert werden und zudem,  wie über all dies hinweg Versöhnung geschehen kann. Die Faszination der Textaufstellung liegt also auch darin, dass in den Stellvertretungen exemplarisch Menschheitsthemen auftauchen, die über die Themen der einzelnen Person hinausgehen und für die Gruppe in einem gemeinsamen Erleben (wenn auch individuell nicht deckungsgleich) lebendig erfahrbar werden.

Spannend für die Teilnehmenden und für mich als Leiterin ist es, wie die „Rollen“ gefunden werden. Immer wieder wird mir berichtet, dass ähnlich wie bei einer Familienaufstellung ein Teil in die Rolle „zieht:“ „Die Stellvertretung lasse ich mir nicht wegnehmen“, sagte eine Teilnehmerin.“ Sie formulierte weiter:

„Ich betrete den Raum, der sich öffnet. Es fühlt sich für mich an wie ein Eintreten in eine andere Wirklichkeit, raus aus meiner individuellen, begrenzten Wahrnehmung in die Wahrnehmung von etwas Größerem.“ 

Eine sehr eindrückliche Erfahrung mit diesem Text machte ich mit einer Ausbildungsgruppe für systemische Pädagogik.   

In der Textaufstellung wurden folgende „Repräsentanten“/“Stellvertreter“ u.a. gewählt: Isaak und  Rebekka als Eltern, Jakob und  Esau als Söhne, Lea als 1. Frau von Jakob und Rahel als 2. Frau von Jakob, der Fremde/Gott, der Betrug, die Versöhnung.  Einige Sätze der Stellvertreter fand ich so beeindruckend, dass ich sie kurz andeuten möchte: Jakob sagt zu seinem Vater Isaak: „Wenn du stark wirst, tust du mir gut!“ Oder: Jakob sagt zu seiner Mutter: „Ich habe das für dich gemacht!“ Nachdem Jakob sich vor seinem Bruder Esau, den er verraten hatte, verneigte, sagte Lea (die nicht geliebte erste Ehefrau von Jakob) zu Jakob: „Du könntest dich auch vor mir verneigen, denn ich habe dir viele Söhne geboren.“ Jakob tat dies auch und dann meinte Lea: „Jetzt kann ich auch anerkennen, dass du Rahel mehr liebst als mich.“  Sind das nicht unglaubliche Sätze?  Im Erleben der Stellvertreter tauchen Klärungen und lösende Schritte auf, die über reine Textbetrachtung niemals gefunden werden könnten. So erwachen Texte zum Leben. – Oder an einer anderen Stelle flirtet Rebekka (in der Stellvertretung) mit dem Betrug. In der biblischen Geschichte stiftet Rebekka ihren Lieblingssohn Jakob an, den blinden Vater Issaak zu betrügen; der Flirt, der in der Stellvertretung auftaucht, lässt noch eine ganz andere Seite des Betrugs sichtbar und fühlbar werden, denn man hätte wohl eher Angst und Schuldgefühl und nicht Lust erwartet.

Besonders beeindruckt hat die Stellvertretung des Fremden/ Gott, ich lasse ihn zu Wort kommen: „Ich habe das Gefühl, eine große Instanz zu sein, allmächtig. Mein richtiger Platz ist auf einem Stuhl, von oben draufschauend. Ich habe nicht den Betrug geschickt, sondern als Instanz sichtbar gemacht, damit hingeschaut wird: Da ist Betrug passiert. Es ist mein großes Anliegen, das hingeschaut wird, wo betrogen wird.  Ich möchte euch segnen, aber die Ordnung ist noch nicht hergestellt (Aussage vor der Versöhnung). Meine Botschaft an euch: Geht in den Fluss des Lebens, und ich bin gütig. Es ist alles da bei euch. Wenn ihr mit Ernsthaftigkeit und klarer Sprache nutzt, was ihr könnt, kann alles gut werden.“

Für mich und uns alle war der Gesamtprozess eine großartige Erfahrung, deren Lebendigkeit und Realitätsnähe teils Familienaufstellungen ähnelt, aber zugleich in Sphären von etwas Größerem, in eine spirituelle Dimension führt. Alle spürten danach einen tiefen Frieden. Die Vertreterin von Isaak drückte dies aus mit den Worten, sie habe Friedensarbeit erlebt, bewirkt durch das Wechselspiel zwischen Mann/Gott und Betrug, und wie wichtig es gewesen sei, dass das, was war, von allen Beteiligten anerkannt wurde.

Ergänzung aus der Sicht einer Teilnehmerin:

„Die Aufstellung fand in einem innenliegenden Park einer Burg statt. Beim abschließenden Segen Gottes standen alle Stellvertreter wohlgeordnet im Halbkreis mit Blick nach oben auf die segnenden Hände, und es war mir, als täte sich der Himmel über uns auf und spräche direkt zu uns. Wir folgten in diesem Moment unabhängig voneinander und doch wie ein gemeinsamer Organismus dem Impuls, uns zu verneigen. Dieser Perspektivwandel während der Aufstellung vom „ich als Mensch“ zum „wir als Menschheit“ war für mich besonders beeindruckend. Der Weg führte über das Herstellen der Ordnung unter den Menschen hin zur gemeinsamen Orientierung der Menschheit auf das große Ganze. Wenn die Ordnung stimmt, wird der Blick frei.“

Ich bekam nach dieser Arbeit einige Mails von Teilnehmerinnen, die noch einmal ihre Berührung ausdrückten und danach fragten, wann wir wieder eine „Friedensaufstellung“ machen würden. Ich habe keine missionarischen Glaubensambitionen, erlebe aber immer wieder, wie bei einer Textaufstellung tiefes, archaisches Wissen, gleichsam als schwarzes und weißes Feuer, weitergegeben werden kann. Mir geht es darum, den spirituellen Raum zu erweitern und neu zu füllen.

Christine Ziepert ist (Lehr)Supervisorin, Coach, (Lehr)Bibliodramaleiterin und Systemaufstellerin. Sie arbeitet in eigener Praxis: www.supervision-jena.de

 

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