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Uhr

Mensch, Zeit und Bewusstsein

Mensch, Zeit und Bewusstsein - Peter Bourquin

 

„Zeit ist nicht die Hauptsache. Sie ist das Einzige.“

 Miles Davis

 

Unser Leben entfaltet sich in der Zeit. Das ist buchstäblich so, jegliche Bewegung ist ohne eine zeitliche Wahrnehmung undenkbar. Doch was will das Wort „Zeit“ uns sagen, welche Bedeutungen geben wir ihm? Offensichtlich geben wir ihr mehr als eine Bedeutung, denn unser Erleben diesbezüglich ist vielfältig. Wir Menschen kennen zumindest diese Formen:

  • Die zirkuläre Zeit/die biologische Uhr
  • Die Uhrzeit
  • Die innere Zeit

Die zirkuläre Zeitwahrnehmung ist eine direkte Folge der Beobachtung der Natur, von Sonne, Mond und Jahreszeiten. Auf Frühjahr folgen Sommer, Herbst und Winter in einem immerwährenden Zyklus, den wir als Geburt und Kindheit, Erwachsensein, Alter und Tod in unserer Existenz widergespiegelt erkennen. Und so folgt eine Generation der nächsten. Im alten Testament (Prediger 1,9) wurden vor Jahrtausenden dafür folgende Worte gefunden: „Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt; die Erde aber bleibt immer bestehen. Die Sonne geht auf und geht unter und läuft an ihren Ort, dass sie dort wieder aufgehe. Der Wind geht nach Süden und dreht sich nach Norden und wieder herum an den Ort, wo er anfing. Alle Wasser laufen ins Meer, doch wird das Meer nicht voller; an den Ort, dahin sie fließen, fließen sie immer wieder. (…) Was geschehen ist, ebendas wird hernach sein. Was man getan hat, ebendas tut man hernach wieder, und es geschieht nichts Neues unter der Sonne.“ Diese Zeitwahrnehmung war bis zu Beginn der Neuzeit vorherrschend.

Die biologische Uhr unseres Körpers folgt diesen großen Zyklen: der Wach- und Schlafrhythmus oder die Verdauungszeiten folgen der Sonne, Frauen erleben ihre Menstruation dem Rhythmus des Mondes entsprechend, der Beginn und das Ende der Fruchtbarkeit innerhalb eines Menschenlebens entspricht den Jahreszeiten.

Dann gibt es natürlich die Uhrzeit, die in unserer modernen Welt das Leben organisiert. Von der Sonnenuhr und der Wasseruhr der Ägypter über die mittelalterliche Kerzenuhr, die mechanische Einzeigeruhr sowie die Taschenuhr bis hin zur Atomuhr – die Geschichte der Uhr umspannt mindestens fünf Jahrtausende. Waren es bei uns seit dem späten Mittelalter Kirchen mit ihren Turmuhren, die der Gemeinschaft Zeit und Rhythmus vorgaben, machte die Erfindung der Taschenuhr die Zeitmessung schließlich einer breiteren Bevölkerungsschicht zugänglich und entkoppelte sie von festgelegten Standorten. Der mittlerweile alltägliche Besitz einer Armbanduhr führte dann zu einer bis heute anhaltenden Omnipräsenz der Zeit.

Vielleicht hat der Historiker Lewis Mumford Recht, als er die These aufstellte, dass nicht die Dampfmaschine, sondern die Uhr das Schlüsselprodukt des kapitalistischen Industriezeitalters sei, weil sie mit einer besonderen Präzision und Strenge die Gliederung der menschlichen Arbeit sicherstellte und eine regelmäßige und standardisierte Produktion in großem Maßstab ermöglicht.

Der Astronom Royal John Flamsteed entwickelte im 17. Jahrhundert das Konzept der „Greenwich Mean Time“. Im 18. Jahrhundert begannen britische Seeleute, auf ihren Schiffen einen Chronometer mitzuführen, der auf Greenwich Mean Time eingestellt war, um den Längengrad zu berechnen. Während früher die Uhr regional nach dem Stand der Sonne eingestellt wurde, was je nach geografischem Ort innerhalb eines Landes erhebliche Unterschiede ausmachen kann, wurde in England 1847 die Greenwich-Zeit als standardisierte Einheit eingeführt, da es notwendig wurde, die Zugzeiten der diversen Bahnlinien zu vereinheitlichen. Ab 1880 war sie landesweit generell verbindlich. Seit 1972 ist sie die Basis für die koordinierte Weltzeit (UTC) mit ihren Zeitzonen. Globaler Handel und Reisen sind ohne diese undenkbar.

Doch dass die uniforme Uhrzeit mit ihren exakt gleichen Zeiteinheiten wenig mit unserem inneren Zeiterleben zu tun hat, ist ein anderes. Wir unterscheiden zwischen einer physikalisch messbaren und einer subjektiven, erlebnisbezogenen Zeit: „Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis. Alle Menschen haben daran teil, jeder kennt es, aber die wenigsten denken je darüber nach. Die meisten Leute nehmen es einfach so hin und wundern sich kein bisschen darüber. Dieses Geheimnis ist die Zeit. Es gibt Kalender und Uhren, um sie zu messen, aber das will wenig besagen, denn jeder weiß, dass einem eine einzige Stunde wie eine Ewigkeit vorkommen kann, mitunter kann sie aber auch wie ein Augenblick vergehen – je nachdem, was man in dieser Stunde erlebt. Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen.“ In diesen poetischen Worten beschreibt Michael Ende in seinem Buch Momo unsere Alltagserfahrung. Ein ereignisreicher Zeitraum erscheint uns kurz, „vergeht wie im Flug“. Hingegen dauern ereignisarme Zeiträume manchmal quälend lange. Unsere Sprache ist reich an Begriffen, um dieses zutiefst persönliche Erleben auszudrücken, wie beispielsweise Kurzweil und Langeweile.

Zeitachsen

Was ist dieses Geheimnis der Zeit? Ich möchte das im Folgenden versuchen zu erfassen.

Der horizontale Zeitpfeil beschreibt im Wesentlichen, dass die Zeit linear verläuft. Es gibt eine Vergangenheit, eine Gegenwart und eine Zukunft. Diese Zeitachse kennt nur eine Richtung, das heißt, die Ursache einer jeglichen Wirkung liegt in der Vergangenheit, und wirkt in die Gegenwart und weiter in die Zukunft hinein. Das ist klassisches Kausaldenken.

Doch schon Kant entdeckte, dass wir die äußere Welt nicht so wahrnehmen, wie sie wirklich ist, sondern dass wir unsere eigene verarbeitete Version dieser äußeren Realität erleben. Eigenschaften wie Raum, Zeit, Quantität und Kausalität sind in uns, nicht außerhalb: Wir zwingen sie der Realität auf.

Was aber ist dann die reine, unverarbeitete Wirklichkeit? Was ist wirklich da draußen? Was ist diese Entität in ihrer Rohform, bevor wir sie verarbeiten? Nach Kant wird das für uns immer unerkennbar sein.

Mit anderen Worten: Unser lineares Zeitverständnis ist nicht die Wirklichkeit, sondern ein Paradigma, eine zutiefst angewohnte Denkweise, die wir für wahr halten. Als solche ist sie ausgesprochen funktionell und praktisch und hilft uns, den Alltag zu organisieren. Die Effizienz der westlichen Welt hat mit diesem Paradigma zu tun.

Doch es geht auch anders. Es gibt weltweit Kulturen, die eher eine vertikale Zeitwahrnehmung haben, ein für uns scheinbar unlogisches und unvertrautes Verständnis. In dieser vertikalen Zeitachse sind Vergangenes, Gegenwart und Zukünftiges gleichzeitig präsent und miteinander verbunden. Die uralte Kultur der australischen Aborigines ist dafür ein gutes Beispiel:

„Während der Amtszeit der Regierung Howard weigerte sich der Premierminister, sich bei den Gestohlenen Generationen zu entschuldigen. (Anmerkung des Autors: Als ‚Stolen Generation‘ bezeichnet man die entführten Kinder der Aborigines. Die australische Regierung entriss von 1910 bis in die 1970er-Jahre zwischen 50.000 und 100.000 Kinder ihren Familien). Er argumentierte, dass die heutige Generation nicht für die Fehler der Vergangenheit verantwortlich sein sollte. Dabei verstand er nicht, dass sein Zeit- und Geschichtsverständnis kulturell bedingt war, von den Aborigines nicht geteilt wurde und der Perspektive der Aborigines nicht überlegen war. Dies ist ein Fehler, der sich immer wieder in der Sichtweise der australischen Nicht-Ureinwohner auf die Kolonialgeschichte Australiens wiederholt. ‚Kommt einfach darüber hinweg. Das war die Vergangenheit, wir müssen weitermachen.‘

Diese Sichtweise auf die australische Kolonialgeschichte ist vom modernistischen Fortschrittsmythos geprägt – dass die Zukunft per definitionem besser sein muss und dass wir diese bessere Zukunft nur dann erreichen können, wenn wir die Vergangenheit hinter uns lassen. Dabei wird die vertikale, gestapelte Zeitauffassung der Aborigines nicht berücksichtigt, bei der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft alle in das ewige Jetzt des Träumens eingebunden sind. Sie berücksichtigt nicht die Verflechtung der Menschen durch ihre Vorfahren und Nachkommen; sie verkennt, dass wir aus der Sicht der Aborigines mit unseren Vorfahren genauso verbunden sind wie sie mit ihren Vorfahren. Was unsere Vorfahren ihren Vorfahren angetan haben, spielt sich heute ab. Was unsere Generation tut, wird sich auf das Leben unserer Nachkommen auswirken. Alles, was ‚in der Zeit‘ geschieht, hat ewige Auswirkungen und ist auf komplizierte Weise miteinander verbunden.

Die Nachstellung eines Ereignisses wird in der Kultur der Aborigines als gleichwertig mit dem ursprünglichen Ereignis angesehen. Bei der Nachstellung der Passionsgeschichte Christi beispielsweise sagten einige Älteste, dass ihnen die Zeremonie nicht gefalle und dass sie erwägen, sie abzubrechen. Ein Walpiri-Mann sagte, es mache ihn ‚traurig, Gott immer wieder zu töten‘. Anstatt nur ein historisches Ereignis dramatisch darzustellen, war die Kreuzigung für einige Walpiri, wenn nicht für alle, eine zeitgenössische Realität." (Quelle: Hume L., Accessing the Eternal: Dreaming 'The Dreaming' and Ceremonial Performance. Zygon. 2004;39(1):237-258.)

Während in der horizontalen Zeitachse vergangene Ereignisse zwei unabdingliche Tatsachen mit sich bringen – das Vergangene lässt sich nicht verändern, und das Geschehene ist vorbei –, ist die Wahrnehmung in der vertikalen Zeitachse eine ganz andere. William Faulkner schreibt: „Die Vergangenheit ist weder tot noch beerdigt, in Wahrheit ist sie noch nicht einmal vorbei.“ Und Octavio Paz drückt das in seinem Gedicht Fuente so aus: „Alles ist gegenwärtig, alle Jahrhunderte sind diese Gegenwart.“

An dieser Stelle möchte ich über das Familienstellen reflektieren. In der Regel zeigt sich im Verlauf der Aufstellung eine Entwicklung, die sich von der Manifestierung des Gewesenen über das Gegenwärtige hin in das Zukünftige spannt. Ganz offensichtlich findet das Erleben einer Aufstellung weitgehend in der vertikalen Zeitwahrnehmung statt. Da ist es beispielsweise möglich, längst verstorbenen Familienmitgliedern zu begegnen oder frühere Ereignisse aus der persönlichen Biografie aufzustellen, doch ebenso einem möglichen zukünftigen eigenen Kind in die Augen zu schauen oder eine anstehende Entscheidung über mögliche alternative Wege in der nahen Zukunft auszutesten.

Es scheint, als ob die Seele nicht zwischen Lebenden und Toten unterscheidet, Zeit und Raum spielen keine trennende Rolle, ganz anders als in unserem Alltagsleben. Meine Beobachtung ist, dass wir in unserer Seele eine vertikale Zeitwahrnehmung benutzen. Deswegen kann sich die Seele auch an die Zukunft erinnern: während unser Instinkt, unser Bauchgefühl, auf den Erfahrungen der Vergangenheit beruht, erfasst unsere Intuition flüchtig das Ankünftige und Unerwartete.

Diese besondere Wahrnehmung kommt nicht aus dem Alltagsbewusstsein, das sich üblicherweise auf der funktionellen horizontalen Zeitachse bewegt. Es lässt sich in aller Regel während eines Aufstellungsseminars eine besondere Atmosphäre beobachten, eine konzentrierte Stille, die alle Teilnehmer in ihren Bann zieht und in Kontakt mit ihrem Inneren bringt. Diese meditative Haltung führt zu einem veränderten Bewusstseinszustand. Nicht zufällig beschreibt mein Kollege Harald Homberger eine Aufstellung als Meditation mit therapeutischen Nebenwirkungen.

Das Interessanteste dabei scheint mir die Beobachtung, dass nicht nur die Ahnen auf ihre Nachkommen Einfluss haben, sondern scheinbar auch diese auf ihre Ahnen. Im Laufe einer Aufstellung finden manchmal Tote ihren Frieden oder beginnen, freundlich auf die Lebenden zu schauen. Dies entspricht dem Verständnis anderer Kulturen. So war es im alten China ein Unglück, keine Kinder zu haben, denn: Wer sollte zukünftig für das Wohlergehen der Ahnen beten? Natürlich wissen wir nicht, ob die Wahrnehmung des Stellvertreters einer schon verstorbenen Person, dass diese in Frieden gekommen sei, seine tatsächliche Entsprechung in jenem Ahnen hat. Doch der Analogschluss bezüglich der eindeutigen und jahrzehntelangen Erfahrung, was die Stellvertreter von lebenden Personen angeht, liegt nahe.

Es kann also sein, dass das Wesen der Zeit viel flexibler ist, so dass Informationen auch in die Vergangenheit fließen können. Und das nicht nur auf der Seelenebene. „Die Gleichungen der modernen Physik erlauben es, dass Energie und Informationen in der Zeit genauso leicht rückwärts wie vorwärts fließen können“, las ich beispielsweise gestern in einem Interview mit Jeff Dune, Kernphysiker der Universität John Hopkins, USA (29.06.24 La Vanguardia). In seinen Worten ist die Entropie das einzige Prinzip der Physik, das besagt, dass die Zeit sich nur nach vorne richtet, doch dass die Gleichungen, welche die Entropie beschreiben, eine zweite Lösung anbieten, die Sintropie, welche ein Universum beschreibt, in dem Energie und Information zurück in der Zeit fließen. Das erinnert mich an die Worte von Suzuki Roshi: „Wenn es nicht paradox ist, dann ist es keine Wahrheit.“

Musik ist von allen Künsten der Zeit am nächsten, denn die Zeit bildet deren elementare Grundlage und ermöglicht Takt, Rhythmus und Tonlängen. Das Zeit-Bewusstsein des Musikers sowie das Verhältnis zu seiner Kultur reflektieren sich in seiner Musik. Zyklische, gewissermaßen endlose musikalische Motive zeigen sich beispielsweise im jamaikanischen Reggae, in der arabischen Musik, den hinduistischen Mantren oder der australischen Didgeridoo-Musik. Dies scheint mir ein Spiegel der vertikalen Zeitachse zu sein, die weder Anfang noch Ende kennt und möglicherweise einen Kreis beschreibt.

Die Ursache liegt in der Zukunft

Unser klassisches Kausaldenken legt nahe, dass Folgeerscheinungen ihre Ursache in der Vergangenheit haben. Doch kontraintuitiv ist das nur teilweise so. Die andere ursächliche Quelle wirkt von der Zukunft her auf uns ein, obwohl sie im Kern zeitlos ist: Sie ist unser Selbst, unsere Essenz, unsere Berufung. Es ist eine Potenzialität in jedem von uns, die sich danach sehnt, gelebt zu werden. Wir haben eine Ahnung davon, wie sich die volle Entfaltung unseres Potenzials anfühlt. In diesem Sinne kann sich die Seele an die Zukunft erinnern, so wie sich beispielsweise eine Eichel an den in ihm angelegten Baum erinnert.

Es gibt eine schöne Anekdote von Michelangelo, dem großen Renaissancekünstler. Nachdem er seine berühmte Skulptur David geschaffen hatte, fragte ihn ein Kollege erstaunt, wie er das gemacht habe. „Ganz einfach“, antwortete Michelangelo: „Ich hatte einen Marmorblock vor mir und habe einfach alles weggeschlagen, was nicht David war.“ Ich habe den Eindruck, dass das Leben dasselbe mit uns macht, indem es mit der Zeit alles Oberflächliche entfernt, bis die Essenz in einem zum Vorschein kommt. Das Leben formt uns! In diesem Sinne können wir manche Dinge, die uns widerfahren, nicht als Folgen der Vergangenheit, sondern der Zukunft verstehen, die gerade an uns meiselt. Schon der griechische Dichter Pindar schrieb vor 2.500 Jahren: „Mögest du werden, wer du bist.“

Dieses erweiterte Verständnis wäre eine Bereicherung für die Psychotherapie und auch die Aufstellungsarbeit. Denn das ständige Suchen von Ursachen in der Vergangenheit hat einen stark rückwärtsorientierten Charakter, der natürlich bis zu einem gewissen Grad Sinn macht, danach aber eine einengende Wirkung im Klienten wie im Therapeuten zeitigen kann. Denn wenn man das Leben ständig im Rückspiegel erfährt, gerät einem das Wesentliche aus dem Blick.

 

Präsenz

Es wird ja gerne von der Bedeutung von Achtsamkeit und Präsenz gesprochen. „Mindfulness“ ist das Wort der Stunde, das in aller Munde ist. Doch was meinen wir, wenn wir von „Präsenz“ reden?

Die Wahrnehmung des Jetzt ist laut der wissenschaftlichen Forschung durch einen Drei-Sekunden-Zeitraum angegeben, der als Gegenwartsdauer bezeichnet wird. Man könnte es das „kurze Jetzt“ nennen. Doch hat Bryan Eno in seinem Essay The Big Here and Long Now (Das grosse Hier und das lange Jetzt; www.longnow.org) einen interessanten Vorschlag gemacht: „Ich kam dazu, dies als ‚Das kurze Jetzt‘ zu betrachten, und dies legte die Möglichkeit seines Gegenteils nahe – ‚Das lange Jetzt‘. Das ‚Jetzt‘ ist niemals nur ein Augenblick. Das ‚lange Jetzt‘ ist die Erkenntnis, dass genau der Moment, in dem man sich befindet, aus der Vergangenheit erwächst und ein Keim für die Zukunft ist. Je länger Sie das Jetzt wahrnehmen, desto mehr Vergangenheit und Zukunft sind darin enthalten. (…) Doch wir leben noch nicht im ‚langen Jetzt‘. Unsere Empathie reicht nicht weit in die Zukunft. Wir müssen jetzt anfangen, an unsere Urenkel und deren Urenkel zu denken, als andere Mitmenschen, die in einer realen Welt leben werden, die wir unaufhörlich, wenn auch nur halbbewusst, aufbauen. Aber können wir einsehen, dass unsere Handlungen und Entscheidungen weitreichende Folgen haben, und es trotzdem wagen, etwas zu tun? (…) Können wir dieses Gefühl begreifen, dass wir in der Zeit existieren und Teil des schönen Kontinuums des Lebens sind? Können wir uns von der Aussicht inspirieren lassen, einen Beitrag zur Zukunft zu leisten? (…) Können wir unsere Empathie ausweiten auf diejenigen, die nach uns kommen?“

Was Bryan Eno in seinen Worten beschreibt, ist ein „Jetzt“ der vertikalen Zeitachse. Ich bin überzeugt, wirkliche Präsenz findet auf der Schnittstelle der beiden Zeitachsen statt. Dort treffen sich sozusagen Himmel und Erde, Seele und Persönlichkeit eines Menschen und sind zugleich präsent. Diese Präsenz ist tiefgehender, weitreichender und umfassender als das bloße Gewahrsein im Augenblick. Zugleich ist sie Ausdruck eines einschließenden Bewusstseins.

Um diese Präsenz zu kultivieren, darf man nicht der Zeit hinterherrennen, sondern lässt sie geschehen. Es geht nicht darum, der Aktualität unserer digitalen Ära in ihrem frenetischen Rhythmus zu folgen, sondern allein in dem Maß und der Geschwindigkeit, zu der einer sich fähig fühlt, um das Leben wahrzunehmen und zu bedenken. Aktuelle Tendenzen wie das Entschleunigen des Alltags, das „slow living“ sind Ausdruck eines tiefliegenden Bedürfnisses vieler Menschen.

Es gibt das wunderbare Phänomen, das im englischen „flow“ genannt wird, in dem die Zeit aufhört zu sein und alles ohne Anstrengung gelingt. Sportler und Künstler kennen dies, doch ein jeder hat diese Erfahrung wohl gelegentlich gemacht. Hier öffnet sich die Tür zu einem weiteren Geheimnis der Zeit …

 

© Peter Bourquin, Juli 2024

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