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Der Schock und die Heilung

‚politik im raum‘ bei der Naumburger Tagung „30 Jahre Mauerfall“ am 10.11.19

Ruth Sander

von Dr. Ruth Sander

Meines Wissens als einzige Österreicherin (wenn auch seit fast 27 Jahren in Deutschland lebend) habe ich an der Naumburger Tagung teilgenommen und durfte auch einen Workshop anbieten.

Seit nunmehr gut 15 Jahren arbeite und experimentiere ich mit dem Format ‚politik im raum‘. Ideengeber dafür war ursprünglich Siegfried Essen, der bereits Anfang der 90er Jahre erzählt hatte, er hätte mit einer Ausbildungsgruppe die Ereignisse von Hoyerswerda nachgestellt, um Dynamiken und Standpunkte sichtbar zu machen: die Asylbewerber, die „Feuer-schauenden“ Bürger, die Rechten Feuerleger, die Feuerwehr, die Stunden brauchte, um den Brandort zu erreichen, den Bürgermeister, die Presse… Zu dieser Zeit gab es „offiziell“ nur Familienaufstellungen, Gunthart Weber hatte sein erstes Organisationsaufstellungsseminar noch nicht abgehalten (das war erst 1995, fürs Management Center Vorarlberg), und Siegfrieds Erzählung war für mich eine Offenbarung: SO WAS kann man/frau auch aufstellen?! Und gleichzeitig war klar für mich: Ich kann das jedenfalls nicht, habe viel zu wenig Erfahrung…

10 Jahre später, Anfang der 2000er Jahre, musste ich mir eingestehen, dass die Sache mit der mangelnden Erfahrung nicht mehr hält: Erfahrungen mit der Methode an sich (vor allem im Bereich Organisationsaufstellungen) hatte ich inzwischen reichlich – aber im weitesten Sinne politische Themen aufstellen – das war doch nochmal eine ganz andere Nummer, oder?

Dank hilfreicher Kolleg*innen (der damals von Kuno Sohm organisierten länderübergreifenden Peergroup aus Westösterreichern, Ostschweizern und ein paar wenigen Süddeutschen) kam es zur Initialzündung: Die Kolleg*innen stellten sich mir auf einem Betriebsausflug nach München für einen vollen Arbeitstag zum Experimentieren zur Verfügung, und die Ergebnisse waren so interessant, dass wir dann im süddeutschen Raum einfach weitergemacht und die Gruppe bald darauf der Öffentlichkeit zugänglich gemacht haben. Sodass es seit 2004 mehr oder minder regelmäßig offene Abende in München gibt, zu gesellschaftspolitischen Themen, die bisher von der Politikverdrossenheit (2 Teilnehmer*innen) bis zur transgenerationalen Traumatisierung (über 100 Teilnehmer*innen) reichten.

Was verbirgt sich nun hinter ‚politik im raum‘? Damit ist ein Setting gemeint, das ich immer wieder variabel der Teilnehmerzahl anpasse, während die Grundform gleichbleibt:

  • Aktives Anwärmen fürs Thema; meist sind das Stellübungen im Raum, z.B. vor Jahren zum Thema „Obama – Hoffnungsträger oder Populist?“ die vorgegebenen Pole ‚Hoffnungsträger‘, ‚Populist‘ und ‚Anders‘, zu denen sich die Anwesenden positionieren sollten. Durch Abfragen ergibt sich dadurch schon ein Stimmungsbild zum Thema (im Fall Obama stand – 1 Jahr nach seiner ersten Wahl - die Mehrzahl beim ‚Hoffnungsträger‘).

Bei größeren Gruppen schließt sich daran ein Austausch der Teilnehmenden in Klein- oder Murmelgruppen an: Was interessiert mich besonders am Thema? Habe ich eine spezielle Frage dazu oder eher eine These, die ich durch eine Aufstellung gern überprüfen würde? Die Fragen/Thesen werden anschließend im Plenum veröffentlicht. Bei kleineren Gruppen findet dieser Prozess gleich im Plenum statt.

Wenn genügend Zeit ist, wird als nächstes um eine gemeinsame Frage oder These gerungen, mit der wir dann in die Aufstellung gehen können. Wenn die Zeit knapp ist, gehen wir mit einem Fragenkomplex den nächsten Schritt, nämlich:

  • Auswahl der Elemente für die Aufstellung; dazu zuerst ein Brainstorming, dann wieder ein Kondensieren auf wenige (ich bevorzuge die Zahl 7 als Maximum), und
  • Wahl der Repräsentant*innen (Freiwillige melden sich, wobei ich empfehle, eine Rolle zu wählen, die dem eigenen Standpunkt entweder entgegengesetzt ist oder möglichst unbekannt; da ist für die Repräsentant*innen im Allgemeinen am meisten zu ‚holen‘ bzw. sind Resonanzphänomene – das Gefühl, gar nicht in der Rolle zu sein, sondern nur Eigenes zu empfinden – am ehesten auszuschließen).
  • Die Aufstellung; da praktisch alle Anwesenden Anliegen-Träger sind, stellt nicht eine Einzelperson die Repräsentant*innen in den Raum, sondern diese suchen sich nach einer kleinen Trance-Induktion, die die Körperwahrnehmung verstärken soll, selbst ihren Platz im Raum bzw. lassen zu, dass ihr Körper den momentan stimmigen Platz findet. Danach mache ich die erste Abfrage, beziehe auch den Beobachterkreis mit ein, der ebenfalls Fragen an die Repräsentant*innen stellen bzw. das Geschehen kommentieren kann. Der Prozess der Aufstellung verläuft im Allgemeinen zur Gänze autopoetisch, d.h. ich frage nach Impulsen der Repräsentant*innen, denen sie entweder alle gleichzeitig in Zeitlupe oder konsekutiv folgen können. (Anfangs habe ich durchaus versucht, selbst Lösungsimpulse ins Geschehen einzubringen, mit dem Erfolg, von den Repräsentant*innen zu hören, das „sei nicht realistisch“…)

Die Aufstellung endet oft nicht mit einem Lösungsbild, sondern an einem Höhepunkt von Spannung (Beim Obama-Thema war das z.B. der Moment, als sich der Hoffnungsträger so sehr zum Realpolitiker gemausert hatte, dass die Hoffenden sagten: „Wir sind so enttäuscht vom Hoffnungsträger, wir könnten jetzt Molotow-Cocktails schmeißen – auch auf den Hoffnungsträger!“)

  • Austausch/Reflexion/Vergemeinschaftung: Dieser Teil ist m.E. genau so wichtig wie die Aufstellung selbst, vor allem, wenn es eben kein schönes Lösungsbild gibt. Denn nun gilt es herauszufinden: Welche meiner Fragen wurde beantwortet? Oder hat sich herausgestellt, dass es um eine andere, neue Frage geht? Was hat mich bestätigt, verärgert, gewundert, irritiert? Welchen Reim mache ich mir auf das Ganze? Welchen du?

In großen Gruppen findet dieser Austausch zuerst auch wieder in Klein- oder Murmelgruppen statt, in kleinen gleich im Plenum. Wichtig ist mir dabei eine dialogische Arbeitsform, wenn möglich entschleunigt durch einen Redegegenstand, damit alle zu Wort kommen können und nicht Vielredner dominieren.

Die Veranstaltung endet mit einem Sammeln von Statements im Plenum (beim Thema Obama war der einhellige Tenor: „Ich will nicht auf einen Hoffnungsträger warten, sondern überlegen, was ich selbst im Rahmen meiner Möglichkeiten tun kann!“).

Soweit die Live-Veranstaltung. Wann immer ich kann, halte ich mir den darauffolgenden Vormittag frei, um ein Gedächtnisprotokoll der Veranstaltung zusammenzustellen. Und dieses an alle Teilnehmenden, die dies wünschen, auszusenden. Meist sind darin einige rote Stellen mit Fragen: Wann genau ist dieses oder jenes passiert? Was war der Anlass? – mit der Bitte an alle, zu ergänzen, zu kommentieren bzw. zu korrigieren. Und immer gibt’s am Ende die Rubrik: ‚Überlegungen in den Tagen danach‘. Denn oft sind die Teilnehmenden voller Eindrücke, die erst sortiert werden wollen. Alle Rücksendungen arbeite ich dann in den ersten Entwurf ein, sodass auch die Dokumentation ein Gemeinschaftsprodukt ist.

Was leitet mich dabei? Ich sehe das Format ‚politik im raum‘ als eine Möglichkeit, zur politischen Bildung dieses Landes beizutragen. Und damit meine ich nicht, vorgegebene Inhalte oder Fakten zu transportieren, sondern die Sensibilität und das Bewusstsein der Teilnehmenden für im weitesten Sinne politische Dynamiken zu stärken und über die dialogische und konstruktivistische Arbeitsform (deine Wahrheit ist nicht wahrer oder falscher als meine, sie ist anders, und es könnte sich lohnen, sie zu hören und verstehen zu wollen) eine respektvolle und zugewandte Form des Austausches zu unterschiedlichen Meinungen und Einstellungen zu fördern.

Meine Rolle dabei sehe ich buchstäblich als Gastgeberin, die einlädt, sich auf Neues und Standpunkt-Wechsel einzulassen. Sicher nicht als „Leiterin“, die Lösungen hat und sie elegant in den Raum stellt. Dazu sind meines Erachtens die Themen zu groß…

Hier jetzt die Zusammenfassung des Naumburger Workshops. Auch hier ist sie ein Gemeinschaftsprodukt, entstanden aus meinem Erst-Entwurf, ergänzt mit zahlreichen Kommentaren der Teilnehmenden:

Die Ausschreibung:

Das Tagungsthema im Raum - Ein interaktiver Workshop

Dieser Workshop will das Tagungsthema im Raum behandeln. Herzstück wird eine Aufstellung sein. Was genau wir da aufstellen, werden die Teilnehmer*innen gemeinsam entscheiden – ob sie sich eher der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft zuwenden werden? Dem Individuellen oder dem Kollektiven?

Zusammenfassung:

Nach eineinhalb dichten Tagen treffen sich knappe 30 Teilnehmer*innen, um das Tagungsthema im Raum zu erforschen. Wir beginnen mit kurzem Innehalten: Was habe ich hier schon alles erlebt, was hat mich berührt, geärgert, gefreut? Wo hat es mich hingebracht? Was beschäftigt mich gerade jetzt zum Thema? In Kleingruppen tauschen sich die Teilnehmenden dazu aus.

Im Plenum sammeln wir anschließend Fragen/Thesen, mit denen wir in die Aufstellung gehen könnten. Hier werden genannt:

  • Sind wir (noch) im Schock?
  • Wie kann es in Bezug auf das Erleben von Enteignung/Ausbeutung/Entwurzelung/Identitätsverlust… gut weitergehen?
  • Was braucht es an Bewusstwerdung, um als Gesellschaft der Vielfalt in einen Heilungsprozess einzutreten, wo Unterschiedlichkeit gesehen und geachtet wird?

Da sich die Fragen nicht widersprechen, sondern eher ergänzen, beschließen wir, die Frage nicht noch mehr zu schärfen, sondern Elemente für die Aufstellung zu definieren und landen bei:

  • die Schutzbedürftigen,
  • die AfDler,
  • die, die etwas verloren haben,
  • die, die etwas gewonnen haben,
  • die VisionärInnen,
  • der Zorn und
  • der Schock.

Im ersten Bild stehen die ersten sechs Elemente, ausgehend von der Vorannahme, dass es auch vor dem Schock Schutzbedürftige, VisionärInnen, potenzielle AfD-WählerInnen (auch wenn es die Partei noch gar nicht gab) etc. gegeben hat, inklusive Zorn:

Die Schutzbedürftigen stehen am Rande des Geschehens, mit dem Blick aufs System. Sie sind selbst erstaunt darüber, dass sie sich gar nicht schutzbedürftig fühlen, sondern gelassen.

Die potenziellen AfDler stehen deutlich mittiger, so, dass sie die Schutzbedürftigen im Rücken haben. Sie fühlen sich unverbunden, nicht zugehörig. Eigentlich eher schwach, aber das wollen sie weder sich selbst noch anderen zugeben. Und: Sie fühlen sich erwählt und legitimiert, von der Obrigkeit eingesetzt, als einzige – wozu, bleibt offen…

Die, die etwas verloren haben, stehen mit dem Rücken zum gesamten System. Sie sind wie erstarrt, haben Schwierigkeiten zu stehen, sind voll damit beschäftigt, „sich zu beatmen“, zu überleben, und fragen sich, ob sie etwas oder eher alles verloren haben…

Denjenigen, die etwas gewonnen haben, ist das voll bewusst. Allerdings sorgt das nicht für Wohlgefühl, sondern für Schwierigkeiten beim Stehen, Zittrigkeit, Schwanken.

Die VisionärInnen stehen am mittigsten. Sie haben kalte Füße und Hände, Traurigkeit im Bauch und die Körperempfindung eines goldenen Fadens von der Schädeldecke nach oben, fühlen sich gut geerdet und nehmen die anderen wahr. Blickkontakt haben sie immer wieder zu denen, die etwas gewonnen haben.

Der Zorn lehnt im Türstock. Ihm ist schwindlig, und er fühlt sich gar nicht zornig. Eher verwirrt. Der Name Fragezeichen würde für den Moment besser passen als ‚Zorn‘.

Dafür meldet sich eine Frau aus dem Zuschauerkreis. Sie sitzt direkt vor den nach außen schauenden etwas/alles verloren Habenden. Seit diese gesprochen haben, ist sie von Zorn erfüllt und könnte zuschlagen…

Nun bitten wir den Schock, in Erscheinung zu treten. Sobald er sich in Bewegung setzt, fühlen sich die Visionärinnen wie vom Blitz getroffen. Sie fallen auf die Knie, zusammengekauert. Der Schock schleppt sich in Zeitlupe, von Schritt zu Schritt tiefer gebeugt, in den Raum und fällt in der Mitte, vor den bereits liegenden VisionärInnen zuerst ebenfalls auf die Knie, dann auf die Seite, in Embryo-Stellung, wobei er die VisionärInnen am Kopf trifft. Allmählich kann er ein wenig von ihnen abrücken. Er atmet ruhig. Die Augen kann er zuerst nicht öffnen, aber zuhören, was die anderen sagen.

Das Auftreten des Schocks hat Auswirkungen auf alle anderen, wenn auch sehr unterschiedliche:

Die Schutzbedürftigen nehmen ihn wahr, quasi wie ein Naturereignis. Sie sind im Frieden mit ihm.

Die AfDler fühlen sich schwindlig, schwach ein bisschen wie besoffen – und sind dagegen. Interessiert sind sie an den VisionärInnen, ohne zu wissen, wer die sind. Das Wort ‚Faschismus‘ fällt; „Alle anderen sind gleich, wir sind anders!“

Die, die verloren haben, haben die Körperwahrnehmung, dass es hinter ihnen (im Zentrum, wo jetzt auch der Schock ist) heiß sei, während es an ihrer Vorderseite kalt ist. Sie würden sich gern umdrehen, können aber nicht, sind noch immer mit Sich-Beatmen beschäftigt.

Die, die gewonnen haben, sind inzwischen ebenfalls auf die Knie gegangen. Sie sind sich noch immer bewusst, etwas gewonnen zu haben. Aber es war ihnen schwindlig, und im Knien ist es besser. Sie sind berührt vom Kontakt zwischen VisionärInnen und Schock, fühlen sich selbst in Kontakt mit diesen beiden.

In den VisionärInnen entsteht der Satz: ‚Ich habe überlebt.‘ und das Bild, aus einem dunklen Raum – Assoziation Bombenkeller - rückwärts hinauszukriechen. Das tun sie auch, etwas Abstand nehmend zum Schock. Sie richten sich langsam auf, kniend, sehen vor sich den Schock liegen. In ihnen taucht das Bild der Pietà aus der Hofkirche in Dresden auf, ihnen ist, als ob sie den Schockauf den Armen hielten.

Lange schauen die VisionärInnen auf den Rücken derer, die etwas verloren haben Ein Lied steigt in ihnen auf: ‚Ach bleib mit Deiner Gnade bei uns, du gnadenvoller Gott‘. Und zugleich ist ihnen unwohl: Sie wollen nicht in eine (religiöse) Schublade gesteckt werden…

Die, die etwas verloren haben, fühlen sich vom Wort Gnade angesprochen und wendet sich den VisionärInnen zu.  Lang und trauernd schauen sich die beiden an.

Hinter den VisionärInnen beobachtet die zornig Sitzende das Geschehen. Auch sie hat lange Blickkontakt mit den Visionärinnen – und fühlt sich sehr kräftig.

Auch dem (ehem. Zorn) Fragezeichen war schwindlig geworden, es kauert im Türstock und macht sich möglichst klein, als wäre es ein Kind. So fühlt es sich auch: „Ich bin nicht schuld. Ich hab das nicht gemacht. Ich muss es nicht aufräumen…“

Der Schock war durch die Aussage der AfDler wütend geworden. Ihr „Hochmut“ lässt ihn sich fühlen wie einen Dampfdrucktopf, der explodiert, als schwebe er über allem. Die Aussage von denen, die gewonnen haben, nun in der Lage zu sein, in den Blickkontakt mit den Visionärinnen zu gehen, lässt ihn die Augen öffnen, und er kann die, die gewonnen haben, anschauen.

Aus Zeitgründen gehen wir in die Schlussrunde der Aufstellung mit der Frage an die einzelnen RepräsentantInnen: Wie würdest du die Eingangsfrage(n) beantworten, oder sind sie für dich gar nicht wichtig, sondern was anderes?

Die Schutzbedürftigen: „Für uns ist alles in Ordnung. Ja, es gibt Schocks, und die können Opfer und Blut kosten. Die müssen gebracht werden, und wenn sie sich ereignen, gilt es, damit umzugehen. Für den Moment haben wir keinen Handlungsbedarf. Aber wenn jemand auf uns zukäme, würden wir unseren Beitrag leisten.“

Die AfDler: „Uns ist es egal, wenn man uns nicht leiden kann. Wir fühlen uns nicht zugehörig. Aber wir wollen es gerne sein. Und: Wir wollen beides nicht zugeben. Wir versuchen eher strategisch, unsere Ziele zu erreichen. Ein erster Schritt wäre: Auf die Schutzbedürftigen zugehen, sie überzeugen, dass wir gute Bündnispartner für sie sind!“

Die, die verloren haben: „Inzwischen habe ich mich umgedreht, ich wollte sehen, wie sich der Schock auswirkt. Und was ich da gesehen habe (die knieenden VisionärInnen, die sich um den Schock kümmern), hat’s mir leichter gemacht, rührt mich zu Tränen. Seit die VisionärInnen von der Gnade sprachen, kann ich richtig atmen…“

Die, die gewonnen haben, inzwischen wieder stehend: „Ich fühle mich verbunden, speziell mit den VisionärInnen und dem Schock. Jetzt ist er Ressource, bedeutet Veränderung und Chance. Ich fühle mich kräftiger, habe Lust etwas zu gestalten – und kann sogar die AfDler freundlich anschauen, habe Interesse an ihnen…“

Der Schock ist inzwischen weiter seiner inneren Bewegung gefolgt. Er hatte sich aufgesetzt, im Arm gehalten von den Visionärinnen. Als von Kindern (ehem. Zorn/Fragezeichen) die Rede ist, stehen die beiden auf, der Schock nimmt Blickkontakt auf mit denen, die etwas/alles verloren haben, denen, die gewonnen haben und den Schutzbedürftigen. Er ist tief berührt.

Die VisionärInnen sind sich einer gnädigen Haltung bewusstgeworden, gegenüber all dem, was sich zeigt in der horizontalen Ebene und der Verbundenheit in der vertikalen Ebene mit Gott/einer   höheren Kraft: „Wir sind seit Generationen die Überlebenden. Wir weinen – zornig – mit denen, die etwas verloren haben.“ Diese Bewusstheit bewirkt, dass sie die Anderen anschauen und sich verbinden können. Und erst, wenn dieser Prozess abschlossen ist, werden sie sich den AfDlern zuwenden können.

Die Kinder (ehem. Zorn/Fragezeichen) haben sich inzwischen in die Jugendlichen verwandelt: „Da drüben sind die Erwachsenen, die machen alles unter sich aus. Niemand redet mit uns. Niemand erklärt uns was. Oder wenn, dann nur intellektuell, sachlich. Das reicht uns nicht!“

Hier lösen wir die Aufstellung auf und sammeln noch ein paar abschließende Kommentare:

„Ich habe sechs Enkel. Da merke ich das: Es muss für die Kinder, für die Jugend was passieren. Die müssen mitgenommen werden!“

„Ich liebe mich, und ich vergebe mir. Ich liebe dich, und ich vergebe dir…“

„Es ist eine Gnade für mich…“

„Ich bin so erleichtert, dass mein Zorn, den ich in der Rolle gespürt habe, letztlich als positive Kraft Richtung VisionärInnengeflossen ist und nicht in Richtung AfD…“

„Die Aufstellung hat mich in meiner Überzeugung bestätigt, dass es um Steiners Idee der Verwirklichung der Dreigliederung des sozialen Organismus geht. Der muss im Bildungswesen beginnen, in der Schule!“

„Ich habe mich bisher eher auf der intellektuellen Ebene bewegt und bin beeindruckt, wie diese Arbeit mit Emotionen einen ganz anderen Zugang zu einem Thema herstellen kann…“

 „Ich habe nicht alles verstanden. Die Aufstellung hat mich sehr berührt, und ich habe in der Bewegung von Vision, Schock und Die, die gewonnen haben eine starke, verändernde Kraft gespürt, eine Hoffnung, dass es gut weitergehen kann.“

 „Der Ärger ist weg, und das fühlt sich gut an!“

Gedanken in den Tagen danach:

„Es hat mich positiv berührt, dass der Schock und die Visionen in einen Verarbeitungsprozess gekommen sind. Allerdings fand ich es alarmierend, dass die Schutzbedürftigen so locker und entspannt von ‚Opfern und Blut’ sprachen, die eben gebracht werden müssen, um eine Entwicklung voranzubringen.

Im Nachgang frage ich mich, ob wir aus Zeitgründen oder Rührung über die Gnade und die Heilung eine große Gefahr übersehen und abgetan haben, zumal die AfDler die Schutzbedürftigen sofort als strategische Ressource erkannt haben. Ich bleibe zurück mit Angst, was sich da vor unseren Augen, von uns ungesehen, als Gewaltpotenzial, Aggression und Opferwille entwickelt.  
Danke für die Aufstellung, für mich war es interessant und toll zu sehen, wie dieses Instrument in diesem Zusammenhang nutzbar ist. Für viel Frieden und Gnade für uns alle.“ 

„Ich bin wirklich eine Ostfrau, "die etwas gewonnen hat" und ich bin aus heutiger Sicht sehr dankbar dafür, dass ich nach 1989 (eigentlich erst ab 1996, als ich mich von meinem Ehemann trennte und aus einer langjährigen traditionellen Pfarrfrauenrolle löste...)  langsam und stetig, ab und an auch rasant und blitzartig, in mein "zweites Leben" geführt wurde und selbst viel dafür tat: Ergotherapie-Ausbildung, Musiktherapie, eigene Praxis seit 2004, Selbsterfahrungen, systemische Ausbildung bei Albrecht Mahr...

Ich hatte in der Aufstellung das von den VisionärInnen benannte "Ach, bleib mit deiner Gnade...", ein Taizé-Mantra, auch für mich als stimmig empfunden in dem Moment und kurz die Melodie gesummt (hier zu hören). Ich beschreibe das so genau, weil ich nach Jahren der inneren und äußeren Ablehnung von "christlichen" Worten und Ritualen und des mich Entwurzelt-Fühlens, im Moment der Stellvertretung ein gutes Gefühl hatte bei "Gnade" und es nicht ablehnen musste. Jetzt, beim Schreiben, merke ich, dass ich doch lieber ein neutraleres Wort gehabt hätte. Ich glaube, die VisionärInnen sprach auch vom "goldenen Faden vom Scheitel nach oben".

Mir ging‘s außerdem an dem Morgen nicht so gut, durch ein Versehen war ich nur für Sonntag angemeldet, Dein Workshop war also meine erste Veranstaltung dieser Tagung! Ich fühlte mich nicht zugehörig (auch ein altes Thema...) und schwach, nicht selbstbewusst, hatte Schuldgefühle, was "falsch" gemacht zu haben. Da hat mich auch der Ort getriggert: Das Haus der Kirche war bis 1990 das "Oberseminar", die Ausbildungsstätte der ev. Pfarrer in der DDR. Mein Mann hat hier von 1978 bis 1984 Theologie studiert. Wir kamen schon mit zwei Kindern von Dresden nach Naumburg, bekamen 1982 ein drittes Kind - und ich habe mich in diesen Jahren um die Familie gekümmert, Geld verdient mit Flötenunterricht (das Stipendium war 160 Ostmark und reichte nicht als Familienbudget)) und mich eher zurückgenommen und kleingemacht - und auch klein gefühlt! Gerade im "Oberseminar", als Nichtstudentin!

Deshalb sicher auch die Betonung von "Gnade" - gerade in diesem ehemals frommen, erstarrten, konservativen Haus, wo ich sie eher nicht erlebte und mich als Außenseiterin fühlte.

Jetzt fühle ich mich viel lebendiger, bewusster, aufrechter. Und gestern, nach der Aufstellung, habe ich mich zugehörig gefühlt. In der großen Gruppe und auch im Plenum und beim Essen im Kreuzgang.“

„Im Nachgang war meine Phantasie: Die, die gewonnen haben, sind die, die gegen die DDR und ihre Verhältnisse protestiert haben, die Bürgerrechtsbewegung, die einen demokratischen Sozialismus wollten (Vortrag Frau Misselwitz). Meine Ursprungsphantasie war die von Vereinigungsgewinnlern, den Wessis. Nach dem Austausch der Verletzungen, der Verluste wird die Vision wieder deutlicher, die auch viele aus dem Westen teilen.“

„Während der Aufstellung dachte ich: Es gilt auszuhalten! Was? Die derzeitige Situation, nicht wieder schnell handeln, wirbeln, tun, sondern jetzt endlich mal ‚Gas rausnehmen‘. Zeit haben um sich umzugucken und wertzuschätzen, was alle – im Osten und im Westen - geschafft haben.“

„Ich war durch die Aufstellung emotional sehr bewegt, ohne dass ich das einordnen konnte. Es fühlte sich aber sehr gut an, wenn auch recht unsicher und durchaus auch gefährlich.“

„Ich bin jetzt – mit einigem Abstand – erstaunt und erleichtert über die positiven Auswirkungen, die der Schock letztendlich hatte. Und zugleich wie seit Jahren verunsichert und ratlos, wie der Kontakt zu (potenziellen) AfDlern gelingen könnte. Schade, dass wir nicht mehr Zeit hatten; es hätte mich interessiert zu sehen, ob und wie die VisionärInnen versucht hätten, zu den AfDlern Kontakt aufzunehmen. Vielleicht hätte ich mir da was abschauen können?“

„Als VisionärInnen hatte ich ja das Bild der Pietà; und hier ein Foto, das ich im Kopf hatte:

(Dresden, Gedächtniskapelle mit Gedächtnisstätte für die Opfer des 13. Februar 1945, Pietà aus Meißner Porzellan von Friedrich Press, 1973)

Für mich persönlich war die ganze Tagung eine ganz ungewöhnliche: ausgerichtet für Fachpublikum, orientiert nicht an Methoden, sondern am Inhalt. Und alle waren, soweit ich das mitbekommen habe, voll mit dabei! Vom ersten Abend an, als alle im Raum gebeten wurden, sich als Ost- oder Westdeutsche zu deklarieren und ein Seil in die Mitte dazwischen gelegt wurde, bis zum sehr persönlichen Vortrag von Dr. Misselwitz am Sonntag-Vormittag.

Klar geworden ist mir vor allem, welch anderen Stellenwert und Funktion die Kirche in der DDR bzw. im Prozess des Mauerfalls hatte, als ich das kenne: In Österreich (und auch in Bayern, wo ich jetzt lebe) wird Kirche eher mit konservativ, bigott und politisch uninteressiert bzw. inaktiv assoziiert. Während sie in der DDR eine widerständige Kraft, den Wandel vorantreibend, war. Kein Wunder, dass so viele Menschen mit kirchlichen Wurzeln bzw. Kontakten an der Tagung teilgenommen haben und auch mein Workshop davon geprägt war! Sodass, angesichts des alle beschäftigenden Themas, kaum Fragen zur Methode auftraten. Sollte das jetzt im Nachhinein der Fall sein, dann gerne direkt bei mir melden!

Dr. Ruth Sander, Lehrende systemische Beraterin und Coach (SG), www.politik-im-raum.de

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