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Heimat - im eigenen Leben zuhause sein

Susanne Panter

von Susanne Panter

(Namen von Klienten und Orte sind geändert)

Zu Besuch in meiner alten Heimat Berlin. Vor etwa zehn Jahren war ich aus Berlin zu meinem Mann nach Frankfurt gezogen. Ich nutze die Gelegenheit, Orte der Vergangenheit aufzusuchen. Das Gefühl kennt wahrscheinlich jeder, Stätten vergangener Tage zu besuchen und sich die Zeit damals aus der Retrospektive anzuschauen.

Der alte Schulweg lässt die Erinnerungen an Klassenkameraden und Erlebnisse mit diesen wachwerden. Die Erinnerung an Lehrer und das Gefühl auf dem Pausenhof. Was?! Den Bäcker gibt es immer noch? Hier haben meine damals siebenjährigen Hände ungelenk das abgezählte Brötchengeld auf den Tresen gelegt. Die Frau, die von Mai bis Oktober immer am Fensterbrett ihrer Hochparterrewohnung aus dem Fenster grüßte wird in meiner Erinnerung plötzlich wieder lebendig. Es werden Gefühle wach, die sich eindeutig nach „Heimat“ anfühlen. „Heimat ist zunächst ein Sehnsuchtsort“ sagt der Politiker Winfried Kretschmann in einem Interview in der  Cicereo-Zeitschrift [1] – und ich fühle, was er meint. 

In den Straßen sehe ich Menschen anderer Kulturkreise, einige von ihnen stehen in Grüppchen bei dem Gemüseladen und wirken hier tief verwurzelt. Andere machen einen eher scheuen Eindruck als ob sie noch nicht lange hier wären – obwohl sie vielleicht aus der gleichen Gegend stammen.

Ich sinniere über den Begriff Heimat und zurück in meiner neuen Heimat Frankfurt fühle ich erstmal genau hin: Die Wege und Gerüche, Geräusche und Geschäfte, alles ist vertraut und ich fühle mich sicher und geborgen. Ich freue mich auf meinen Sohn, meinen Mann und meine Freunde, das Gefühl ist klar und ganz eindeutig: „Heimat“.

Heimat als Bezugssystem

Heimat ist ein so vielseitiger Begriff, dass sich eine allgemeingültige Definition nicht herleiten lässt. Etymologisch stammt das Wort Heimat von heimoti/heimot "Heim" und "Haus" ab [ 2 ]. Im Allgemeinen bezieht das Wort Heimat sich auf einen Ort, eine „äußere Heimat“. Es gibt aber auch so etwas wie eine „Innere Heimat“, die weniger mit Orten sondern mit Gefühlen, mit Sprache, Gerüchen, Geräuschen oder Bräuchen zu tun hat.

Laut Wikipedia ist Heimat in der Neurobiologie im Gehirn jedes Menschen präsent. „Heimat besteht aus einer Unmenge von Engrammen. Je länger er an einem Ort verweilt, desto stärker sind die Engramme synaptisch bei ihm verfestigt, sofern sie emotional positiv korrelieren. Heimatgefühle manifestieren sich durch wiederholte Prägung“. [3]

Darüber, was Heimat ganz genau ist und wer oder was dazugehört, wird viel gestritten. Gerade in den letzten Jahren, in denen viele Menschen aus ihrer Heimat flüchten müssen und nach Europa kommen. Birgit Theresa Koch hat mit ihrem Buch „Junge Flüchtlinge auf Heimatsuche“ gemeinsam mit verschiedenen Fachleuten zusammengetragen, was es dafür braucht, damit junge Geflüchtete in Deutschland ein Heimatgefühl entwickeln können. Ein Interview mit ihr ist in eine Audiobuchbesprechung der PDS zu hören.

Im Sinne der Systemaufstellung lässt sich meiner Meinung nach als "Heimatgefühl" bezeichnen, wenn man an genau dem richtigen Platz steht und alle anderen Systemangehörigen ebenfalls. Man fühlt sich mit sich selbst in Einklang und dadurch optimal in der Lage, mit seinem Umfeld in Resonanz zu kommen. Damit korrespondiert was Erik H. Erikson sagt. „Dass man kein Gefühl für Aktualität aufbauen kann, wenn man seine leibliche Familie nicht kennt. Mit Aktualität meint er, die Fähigkeit, sich mit Menschen und Ereignissen auf eine wirkliche Art zu verbinden“ [4]

Nach meinem Verständnis machen Bezugspunkte Heimat aus. Es gibt sowohl innere als auch äußere Bezugspunkte. Werte und Moral stellen beispielsweise innere Bezugspunkte dar, Orte und Personen Äußere.  Je besser einem die Bezugspunkte seines Systems bewusst und bekannt sind, desto mehr „kennt man sich aus“, desto leichter kann man sich selbst ausrichten und orientieren, desto wohler fühlt man sich, desto mehr im Gleichgewicht.

Als Bezugssystem wird ein Bezugskörper und ein damit verbundenes Koordinatensystem bezeichnet. Ein Mensch der in Syrien aufgewachsen ist und flüchten muss, verlässt sein ihm bekanntes Koordinatensystem. Und da das neue Koordinatensystem, Europa, gänzlich andere Bezugspunkte aufweist, fühlt er sich fremd. 

Dies lässt sich sowohl auf eine räumliche Umgebung als auch auf die Psyche anwenden. Manchmal fehlen dem Bewusstsein gewisse Bezugspunkte, die dem eigenen System jedoch immanent sind. Vater und Mutter oder andere „Angehörige“ sind Bezugspunkte von großer individueller Bedeutung. Wichtige Bezugspunkte wirken „magisch“ anziehend. Wie die besonders wichtigen Stätten alter Tage, wenn man in eine Stadt kommt, in der man lange gelebt hat.

Die Herkunftsberatung

Dass man kein Gefühl für Aktualität aufbauen kann, wenn man seine leibliche Familie nicht kennt ist einer der Gründe, warum sich an die Herkunftsberatung gewandt wird. Hier werden die Angehörigen der leiblichen Familie gesucht und der Kontakt zu diesen vermittelt. Anders als Erikson bin ich jedoch der Meinung, dass nicht nur die Angehörigen selbst, sondern auch Informationen zu gewissen Umständen wichtig sein können. Zum Beispiel die Information über die Beziehung der leiblichen Eltern. „Wurde ich in einer heißen Liebesnacht gezeugt oder bei einer Vergewaltigung?“ „Wurde in den ersten Lebenstagen/Wochen/Monaten gut für mich gesorgt? Oder wurde ich auf Grund einer Kindeswohlgefährungsmeldung in Obhut gegeben?“ „Hat mein Vater gewusst, dass ich unterwegs bin? Oder hat meine Mutter ihn nicht über die Schwangerschaft informiert?“ Die Antworten auf solche Fragen stellen ebenfalls wichtige Bezugspunkte dar, die helfen, sich selbst und seine Verhaltensmuster zu verstehen.

Der erste Schritt einer Herkunftsberatung ist ein längeres Vorgespräch und die Erstellung eines Genogramms. Ziel ist die Auftragsklärung. Wo steht der Klient, wo will er hin, was erwartet er? Welche Bezugspunkte kennt er schon, welche möchte er kennenlernen? In diesen Gesprächen nehme ich häufig eine starke Unruhe, ein Sich-Getrieben-Fühlen der Klienten wahr. Unruhe und Rastlosigkeit, ein Nicht-Angekommen-sein. Häufig kommt es auch vor,  dass die Herkunftssuche eine Art „Zwischenziel“ für die Klienten darstellt. Es wird benötigt um danach dies und das machen zu können. Heiraten, sich mit den Adoptiveltern versöhnen, eine Ausbildung beginnen, in den Ruhestand zu gehen.  Ist der Stein Herkunftsklärung erstmal aus dem Weg gerollt, ist der Weg wieder frei um weiterzugehen. Oder anders gesagt: Sind wichtige, unbekannte Bezugspunkte erstmal sichtbar und bewusst geworden, verlieren sie an Anziehungskraft und geben wieder Kraft frei, neue Bezugspunkte zu explorieren.

Familiensysteme zu visualisieren, kann verstehen helfen, aus welchem Grund der Klient bestimmte Situationen oder Personen „anzieht“.

Nicht nur bei Familiensuchen wird die starke Anziehungskraft mancher Bezugspunkte im Leben deutlich. Auch bei anderen, freundschaftlichen Verbindungen wirkt etwas Unerklärliches. Dazu das folgende Beispiel:

„Ordnung ins eigene Leben bringen“. 

Die Klientin, Annedore, sagt: „Ich bin gerade dabei, Ordnung in mein Leben zu bringen“. Sie wünscht sich, den Kontakt zu einem Mann, den sie vor 40 Jahren sehr geliebt hat, wieder aufzunehmen. Er heißt Reiner und lebte damals in Bielefeld. Reiner war in Feuchtwangen, 500 km südlich seiner damaligen Heimat bei der Bundewehr stationiert. Hier lebte damals auch die Klientin und sie lernten sich beim Tanzen kennen. Sie hatten eine intime und innige Verbindung und es war für sie eine der intensiven Zeiten ihres Lebens.

Vor ein paar Jahren starb ihre Mutter, zu der sie immer ein unterkühltes Verhältnis hatte. Im Nachlass fand sie mehrere Briefe von dem damals so geliebten Mann. Es war eine tiefe Liebe, die sie miteinander verband, erzählte die Klientin im Vorgespräch. Er ging zurück nach Bielefeld und niemand konnte wissen, dass seine Briefe unterschlagen wurden. Als er zu einem Fest nach Feuchtwangen zu Besuch kam, wies die Klienten ihn verletzt zurück. Hatte er sich doch zwischendurch nicht gemeldet! Sie gab ihm keine Chance, sich zu erklären. Sie mied den Kontakt und ließ ihn kalt abblitzen. Ihre Mutter unterstützte sie sehr dabei. Die Mutter gab ihr zeitlebens immer das Gefühl, dass sie sowieso nicht liebenswert sei und sie ermahnte sie damals, sich nicht ausnutzen zu lassen.

Die Klientin heiratete einige Jahre später einen Mann, der nicht wirklich die Erfüllung dessen war, was sie unter einer guten Beziehung verstand. Es war eher eine Zweckgemeinschaft und es kam wie es kommen musste: Ihr Mann verließ sie, und sie lebte fortan in einem Vorort von  Nürnberg alleine. 

Als sie die Briefe aus Bielefeld im Nachlass ihrer Mutter fand, traf es sie wie der Blitz! Eine Freundin von ihr hatte ihr von meiner Dienstleistung erzählt und sie nahm sofort Kontakt zu mir auf. Das Vorgespräch konnten wir nur telefonisch durchführen, es war dennoch sehr „nah“ und herzlich. Damit ich mir auch „ein Bild von ihr machen“ konnte, legte sie den Auftragsunterlagen freundlicherweise ein Foto von sich bei. Es zeigte sie, wie sie Kunstgewerbe auf einem Weihnachtsmarkt verkauft. Ich spreche sie auf das Foto an und sie erzählt, dass sie schon viele Jahre auf diesem Weihnachtsmarkt ihren Stand habe. Das hatte sich so eingebürgert, auch wenn sie 50 Kilometer weit davon entfernt lebt. Dieser Weihnachtsmarkt auf Schloss Schillingsfürst sei einfach ihr Lieblingsweihnachtsmarkt, hier fühle sie sich fast schon wie zu Hause.

Die Suche nach Reiner beginnt und verläuft soweit routinemäßig. Als ich jedoch die aktuelle Heimatadresse des Gesuchten in den Händen halte, kann ich es kaum fassen: Schillingsfürst! Sein Heimatort war genau dieser kleine Ort in Mittelfranken mit 2.800 Einwohnern, in dem die Klientin alljährlich ihren Stand auf dem örtlichen Weihnachtsmarkt hatte. Der Mann hatte laut der Klientin selbst keine Verbindung zu diesem Ort. Es war ein reiner Zufall! Oder auch nicht? Erklärt sich so die starke Anziehung zu genau diesem Weihnachtsmarkt bei der Klientin?

Der erste Kontakt erfolgt in der Regel schriftlich, so auch hier. Auch, wenn es vordergründig erstmal nicht mit „Heimat“ zu tun hat, möchte ich an dieser Stelle ein sich bei uns wiederholendes „Phänomen“ beschreiben, welches auch in dieser Suche sichtbar wird. Ich schreibe Reiner einen Brief, in dem ich erkläre, dass seine Freundin aus seiner Bundeswehrzeit in Feuchtwangen ihn sucht. Zwei Tage später ruft Reiners Frau bei mir an. Sie sagt, dass es Ihrem Mann gesundheitlich nicht besonders gut ginge und er sie gebeten hat, sich bei mir zu melden. Die Frau pflegt ihren Mann. Sie erzählt, dass er gesundheitlich sehr beeinträchtigt sei. Er könne kaum laufen und sei auf ihre Hilfe angewiesen. Es besteht eine große Offenheit zu dem Kontakt,  ich darf der Klientin die Telefonnummer geben.

Die Klientin ruft mich dann ein halbes Jahr später erneut an. Sie hat zwischenzeitlich mehrfach mit ihrem Freund telefoniert. Er hat sich sehr gefreut über den Kontakt. Er war erleichtert, als er erfuhr, dass seine Briefe sie damals nicht erreicht hatten. Ihr Plan, ihn bei ihrem nächsten Weihnachtsmarkt zu besuchen, konnte leider nicht mehr realisiert werden. Reiner verstarb vorher.

Dass eine Suche beginnt, wenn ein Gesuchter kurz vor dem Sterben ist oder just verstorben war, erlebe ich des Öfteren. Der Suchende stellt offenbar einen starken Bezugspunkt, „ein Stück Heimat“,  im Leben des Gesuchten dar und umgekehrt. Eine Palliativärztin, die unter dem Pseudonym Hanna Haberland schreibt, stellt fest, dass Sterbende häufig noch „auf jemanden warten“. Als z.B. jemand schon im Sterben lag und schon gar nicht mehr ansprechbar war, konnte er nicht sterben, bevor nicht der Bruder aus Nicaragua durch die Tür gekommen ist.

Die australische Sterbebegleiterin Bronnie Ware veröffentlichte 2011 einen Erfahrungsbericht darüber, was Menschen im Angesicht des Todes am meisten bedauern. An erster Stelle steht der Wunsch, „den Mut gehabt zu haben, mein eigenes Leben zu leben.“ 

Im eigenen Leben zu Hause sein 

Ein anderes Beispiel, was „Heimat“ als ein System von Bezugspunkten beschreibt und was passieren kann, damit man sich in seinem Leben „heimisch fühlt“ ist das Folgende:

Vor 10 Jahren wollte ein Klient, Peer, Kontakt zu einer Dame bekommen, die er vor vielen Jahren während eines Krankenhausaufenthalts kennengelernt hatte. Es waren lange drei Wochen, in denen sie sich angefreundet hatten. Verglichen mit anderen Aufträgen, kannten sich die Beteiligten hier nur sehr kurz, „normalerweise“ verbinden die Beteiligten einer Suche mehrere gemeinsame Jahre, wenn es nicht Verwandtschaftsbeziehungen sind. Ich konnte diese Suche zunächst nicht einordnen. Peer erzählte, dass er eine feste Freundin habe, mit der er glücklich sei. Diese Frau, die er suche, sei ihm einfach irgendwie besonders wichtig. Sie hatten sehr intensive Gespräche geführt, es hatte nichts mit einer erotischen Anziehung zu tun. 

Die Suche stellte sich als sehr schwierig heraus, da wir nur vage Daten der Gesuchten hatten. Sie vereinte mehrere Besonderheiten, die es zu berücksichtigen galt: a) Peer war sehr hartnäckig und die Vehemenz, mit der eine Person außerhalb der Familie gesucht wurde, glich der eines Stalkers – doch darum ging es hier nicht. b) Die Wichtigkeit die es für ihn einnahm, war dieselbe wie bei einer Familiensuche. Darum ging es auch nicht. Und um eine lange Freundschaft schien es sich ebenso wenig zu handeln. Da Suchanliegen sich nicht alle erklären, suchten und fanden wie die Person schließlich. Peer bedankte sich, der Kontakt sei nun erfolgt, der Suchauftrag wurde archiviert.

Zehn Jahre später wurde alles verständlich. Peer rief an: Er sucht seine leiblichen Eltern! Die Geschichte die er mir erzählte, gleicht einigen anderen, die ich schon so ähnlich gehört habe und die mich immer wieder tief berühren. Peer wuchs in dem Glauben auf, das leibliche Kind seiner Eltern zu sein. Er wusste von seinen Eltern, dass er ihr zweites Kind war. Das erste Kind war in den späten fünfziger Jahren als Frühchen geboren worden. Es war behindert gewesen und nach eineinhalb Jahren gestorben. Die Mutter hatte seit der Geburt an einer sehr starken Schmerzempfindlichkeit gelitten. Peer fragte sich damals schon, wie es möglich gewesen sein konnte, dass sie mit dieser Schmerzempfindlichkeit noch ein weiteres Kind, ihn, bekommen hatte. Mit leisen Zweifel hatte er damals er seinen Vater gefragt, ob er denn das leibliche Kind seiner Mutter wäre. „Natürlich sei er das!“, hatte der Vater geantwortet und ihm zum Beweis die Geburtsurkunde vorgelegt, in der die annehmenden Eltern als seine Eltern standen. Dazu muss man wissen, dass jeweils zwei Urkunden existieren, eine Geburtsurkunde, die die annehmenden Eltern als Eltern ausweist und eine sogenannte Abstammungsurkunde, auf der die leiblichen Eltern stehen. Die Geburtsurkunde wird Stellen vorgelegt, die nicht erfahren müssen, dass das Kind adoptiert ist, z.B. Schulen oder anderen öffentlichen Einrichtungen. Die Abstammungsurkunde dagegen, wird zum Beispiel bei Eheschließung benötigt, damit der Standesbeamte sicher sein kann, dass er keine Geschwister miteinander verheiratet. Nicht wissend, dass es diesen Unterschied gibt, wurde an dem Thema zunächst nicht mehr gerührt.

Dann war Peers Mutter verstorben. Ihre gesundheitliche Situation war lange vorher kritisch gewesen und die Eltern hatten sich zeitig um ihren Nachlass und ihr Testament gekümmert. In diesem Zusammenhang erfuhr mein Klient, dass sein Vater noch ein weiteres Kind hat. Dieses war aus einer nichtehelichen Verbindung entstanden und der Vater war erst später in den Geburtseintrag eingetragen worden. Die Geschichte um diesen Halbbruder und die Tatsache, dass der Vater wohl erst später in das Geburtenbuch eingetragen worden war, rührte ihn merkwürdig stark an. Nicht, dass er seinen Halbbruder kennenlernen wollte, nur einfach die Tatsache, dass es so gewesen war, wie es gewesen war. 

Nachdem seine Mutter beerdigt worden war, hatte er anlässlich der Geschichte um seinen Halbbruder seine Tante nochmal nach der genauen Konstellation seiner Familie gefragt. Die Tante war nicht willig gewesen Auskunft zu geben, hatte aber empfohlen, dass er sich doch im Standesamt einmal seinen Geburtseintrag anschauen sollte. 

In seinem Geburtseintrag hatte der Name einer fremden Frau als seine Mutter gestanden, am Rande war die Notiz vermerkt gewesen, dass er „an Kindes statt“ von seinen Eltern angenommen worden war. Also doch! Mit dieser Information hatte er erneut sein Vater konfrontiert – ohne nennenswerten Erfolg.

Dies nun war der Zeitpunkt der erneuten Kontaktaufnahme mit mir.

Um auf das Bild des Koordinatensystems mit seinen Bezugspunkten zurückzukommen: Peer steht in seinem Koordinatensystem, dessen Bezugspunkte er zu kennen glaubte. Nun erfährt er, dass es noch ganz andere und sehr wichtige Bezugspunkte in seinem Koordinatensystem gibt, von denen er nichts wusste. Er möchte seine leiblichen Eltern und die Umstände die zu seiner Adoption geführt haben, dringend kennenlernen, um sich „zu Hause“ zu fühlen. 

Ein wichtiger Aspekt bei einer Herkunftsberatung ist die Frage: Was geschah in der frühen Kindheit? Die Adoption war zwei Jahre nach seiner Geburt erfolgt. Was war davor? Wo war er? Diese Informationen konnten wir aus seiner Adoptionsakte erfahren. Er war in einem evangelischen Kinderheim. Nachdem er diese Information hatte, hatte Peer den Wunsch, dieses Kinderheim zu besuchen.

Ich war skeptisch, ob hier gute Gefühle getriggert werden würden. Die Kinderheime in den 60er Jahren haben nicht den besten Ruf. „Satt und sauber“ war die Anforderung, "Züchtigung erhöht die Brauchbarkeit des Zöglings", heißt es in einem Standardwerk der Heimerziehung aus dem Jahr 1955. [5]

Umso überraschter war ich, als Peer wieder anrief und seinen Besuch im Kinderheim als geradezu heilend beschrieb. Diesen Ort zu sehen, hatte ihn beruhigt, er konnte sehr positive Gefühle damit verbinden. Das Kinderheim hatte ebenfalls noch eine Akte von ihm archiviert. Aus dieser ging hervor, dass er zu Hause immerzu in seinem Gitterbett gelegen hatte. Damals hatte er mit zwei Jahren noch nicht einmal sitzen können! Die leibliche Mutter hatte das Kind aus freien Stücken zum Kinderheim gebracht. Hier konnte er sich endlich frei bewegen. Mit Lektüre dieser Akte wurde ihm auch bewusst, dass daher sein starker Bewegungsdrang herkommen musste. Er hatte immer Sport getrieben und spielt heute noch, mit 50 Jahren, aktiv in einem Verein Fußball.

Aus der Adoptionsakte erhielt er auch Informationen zu seinem leiblichen Vater. Als er las, dass dieser damals Architekt in Berlin gewesen sei, verstand er endlich die Reaktion seines annehmenden Vaters, als er diesem vor ungefähr 20 Jahren offenbart hatte, dass er Architektur in Berlin studieren möchte. Der Vater weinte! Das hatte überhaupt nicht seiner Art entsprochen und den Klienten damals sehr verwirrt.

Ich führte viele Gespräche mit dem Klienten. In einem dieser Gespräche löste sich auch die Frage auf, was den starken Wunsch begründete, seine Bekannte 2002 suchen zu lassen. Diese Frau war adoptiert! Dieses Detail war für die Suche damals nicht wichtig gewesen und wurde mir daher nicht erzählt. Sie hatte dem Klienten in dem Krankenhaus von der Adoption erzählt und Peer verspürte eine so starke Anziehung, die sich im Nachhinein nun auch mir erklärt. Die Frau war ein symbolhafter Bezugspunkt, seiner eigenen, ihm damals noch unbekannten, emotionalen Heimat gewesen. 

Bevor im nächsten Schritt die Kontaktanbahnung zu seinen leiblichen Eltern beginnen kann, muss sich Peer in „seinem Koordinatensystem“ neu verorten. Dann kommt der nächste Schritt. Immer in Richtung Heimat, sich heimisch in seinem Leben zu fühlen.

Wenn ich über Heimat nachdenke, geht es auch um Vollständigkeit. Ist alles da? Sind alle da? Mein Heimatkoordinatensystem ist nicht viel anders als das von z.B. Annedore und Reiner. Die Bezugspunkte in dem Koordinatenkreuz sind nur andere. Meine Familie, Freunde, Arbeit.

Peers Koordinatensystem ist ganz ähnlich, nur dass bei ihm Bezugspunkte auf den Achsen lagen, von denen er zunächst gar nicht wusste. Er fühlte sich zwar angezogen, aber wusste nicht von was.

Wenn ich mich zu jemandem oder etwas hingezogen fühle, frage ich ganz genau nach: Was hat die Begebenheit, die Sache oder diese Person mit meiner persönlichen Lebensheimat zu tun? Sich dies genau anzuschauen macht Sinn, denn die Gravitationskräfte lassen sich nicht aushebeln, „everything falls into place“ – immer.

Quellenverzeichnis

Literatur:

  • Koch, Birgit Theresa: Junge Flüchtlinge auf Heimatsuche
  • Haberland, Hannah: Letzte Begegnungen
  • Ware, Bronnie: 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen.
  • Breitinger, Eric: Adoptiert. Eine lebenslange Aufgabe 2016
  • Kühn, Peter: Adoptierte auf der Suche nach ihrer genealogischen Verwurzelung Motive für die Kontaktaufnahme zur leiblichen Familie. Eine empirische Studie

Susanne Panter: Gründerin der Herkunftsberatung

www.wiedersehenmachtfreude.de, panter@wiedersehenmachtfreude.de

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Kommentar von Christine Ziepert |

Liebe Susanne, Du hattest ja schon in Uslar ein wenig von Deiner Arbeit erzählt, jetzt durfte ich Deinen Beitrag lesen, der mich sehr berührt hat- wie nah bist da damit der Aufstellungsarbeit! Herzlichen Dank, ich wünsche Dir, dass Du weiterhin mit Freude, Neugier und Spürsinn den Menschen auf der Suche nach Heimat helfen kannst.

Christine Ziepert


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